Ein Helfer nach Süden, Hunderte Panzer nach Osten
Nils Trede gestaltet in „Richtung Süden“ eindrucksvoll die Verzweiflung eines mitfühlenden Mannes an der Welt und der Sprache
Von Rainer Rönsch
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEin namenloser Mann geht durch eine namenlose Provinzstadt, die undurchdringlich grau und gesichtslos ist wie andere Kleinstädte auch. Eine kühne Wortfindung rückt die Stadt vor Augen – der Mann vermutet „Provinzstadtalgenbeschlag“ auf allen Dingen.
Das Aussehen des Mannes wird spät und bruchstückhaft geschildert, auch anhand eigener Kommentare zu den Attributen, die er seinen Kindern vermacht hat. Nicht den Sackbauch im Februar, die breiten Schultern und den ovalen kahlgeschorenen Kopf, wohl aber den „milden festen Blick“ und die „feinen grazilen Hände“. Seine tiefen Stirnfalten schreibt er nicht dem Alter zu, sondern tiefem Denken und zwischenmenschlichem Fühlen. Der Mann ist arbeitslos, gebraucht dieses Wort aber nicht. „Ich gehe derzeit keiner regelmäßigen Tätigkeit nach, was seine Gründe hat.“ Psychische, darf man vermuten, nicht nur wegen der selbstverliebten Beschreibung seines Äußeren. Er bezeichnet sich in vorgestanzten Worten als normal, ist aber außerstande, Einkäufe zu erledigen, ohne über deren Sinnhaftigkeit zu grübeln.
Tatsächlich war er beim Psychiater. Der sagte ihm, sein Problem sei nicht die Beschaffenheit der Welt, sondern seine Haltung zu ihr. Diese Arroganz würden wohl auch Hamlet und Woyzeck zu hören bekommen und alle, die in Schleudern geraten, weil die Welt aus den Fugen ist.
Das Verhältnis des Mannes zu seiner Frau Alexandra ist zwiespältig. Sie spricht sofort von Sozialismus, wenn er gleiche Chancen für alle Kinder will. Denn er liebt nicht nur die eigenen, Clara und Simon. Es soll nicht frühzeitig feststehen, wer die Chefetagen bezieht und wer die Toiletten reinigt. Man mag seine Idee, jedem Kind einen großen Batzen Geld als „Kollektiverbe“ in die Hand zu drücken, für verstiegen halten. Mit Sozialismus hat sie nichts zu tun, und tausendmal besser als Egoismus ist sie allemal.
Noch mehr als unter der Gesichtslosigkeit der Stadt leidet der Mann unter der Verrohung der Menschen und der Sprache, die vorrangig dem Schönfärben dient. „Ausrücken“ möchte er aus dieser Sprache der Verlogenheit, in der auch „faschistische Basisargumente“ formuliert werden: „Das Schlechte in der Welt hat es schon immer gegeben. Mit mir hat das nichts zu tun.“
Er hat Angst vor einem Krieg mit Russland, das von Europa falsch behandelt wird. Das ist kein Stammtisch-Politisieren, sondern tiefe Einsicht in die Ursachen für drohendes Chaos. Bis zur Schlaflosigkeit treibt ihn um, dass die Menschen nicht mehr füreinander einstehen und dass er selber viermal versagt hat, als er suizidgefährdete Menschen zwar erkannte, aber aus Scheu und Bequemlichkeit nichts für sie tat. Eine japanische Studentin ist aus dem Fenster gesprungen, ein Fleischer hat sich vor den Zug geworfen, eine Kaufhallenkassiererin ist verschwunden. Am meisten quält den Mann das Schicksal Antons, eines Schulkameraden von Simon. Dieser Junge „mit Migrationshintergrund“ wurde vom Vater im Klassenzimmer ins Gesicht geschlagen und ist bald darauf gestorben. Erst danach geht der Mann zur Mutter des Jungen und erfährt, dass der Vater verzweifelt war, weil vier Verwandte, für die sie Quartier bereitet hatten, bei der Flucht aus dem Elend auf eine Mine getreten sind.
Ein fünftes Versagen soll es nicht geben. Der Mann geht eines Abends auf einen draußen in eine ranzige Decke gehüllten Menschen zu, berührt ihn an der Schulter, bietet Hilfe an. „Dann Polizei plötzlich.“ Auf der Wache fragt man ihn nach dem „Tathergang“. Er hatte sich von einem Fremden eine Pistole zustecken lassen, ungern, aber ohne Gegenwehr. Und gespürt, welche Macht die Waffe verleihen kann. Ein Schuss hat sich gelöst – weitere Befragungen, Psychiater, Spritze, Entlassung nach Hause. Wie im antiken Drama verhindern Schicksalsmächte, dass dieser Mann, der Gutes will, auch Gutes tut.
Bisher hat er seinem Leben keine Orientierung geben können. Jetzt wird er Richtung Süden gehen und dazu beitragen, dass das Mittelmeer, die moralische Heimat der Europäer, nicht das nasse Grab von Flüchtlingen bleibt, sondern wieder heil und schön wird. Mit diesem Entschluss glaubt der Mann eine neue Sprache ohne Worte zu finden, die Sprache der Stille von Herz zu Herz. In ihr kann er seinen Kindern vieles sagen.
Doch nur die alte Sprache vermag auszudrücken, was dann geschieht. Das fast vergessene Thema „Europa und Russland“ wird lebensgefährlich akut, als 327 Panzer über die Ostgrenze der Union rollen. Die Augen der Kinder verfinstern sich. Der Mann weiß: „Nichts auf der Welt ist so kostbar wie beseligt schauende Kinderaugen.“ Sein Ruf nach Clara und Simon verhallt.
Man mag kaum glauben, dass Nach Süden der Debütroman Nils Tredes in seiner deutschen Muttersprache ist; der in Frankreich lebende Allgemeinmediziner hat vorher zwei Bücher auf Französisch verfasst. Der Roman und sein Held ziehen magisch in den Bann, weil die eindringliche, oft elliptische Sprache den Leser tief in das reine mitfühlende Herz und den trotz mancher Verwirrung hellsichtigen Verstand einer männlichen Kassandra blicken lässt.
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