Stimmung im Keller

„The Basement Tapes“

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichte hinter Dylans so genannten „Basement Tapes“ ist oft erzählt worden: Nach seinem Motorrad-Unfall im Sommer 1966 zog sich Dylan komplett in das damals noch entlegene Woodstock im Hinterland von New York zurück, um zu Beginn des Jahres 1968 mit dem kargen, ernsten John Wesley Harding zurückzukehren. Die Zeit diente der Erholung von den Strapazen der vergangenen Jahre. Dazu konzentrierte sich Dylan auf das Leben als Ehemann von Sara Lowndes und die gemeinsamen Kinder. Was nicht hieß, dass er untätig blieb. Über einen langen Zeitraum im Frühling, Sommer und Herbst 1967 musizierte er mit den Musikern der Band The Hawks, die ihn in den vorhergehenden Jahren auf Tour begleitet hatten, vier Kanadiern und einem Southerner aus Arkansas. Ursprünglich waren sie die Begleitband des Rockabilly-Sängers Ronnie Hakwins gewesen, machten sich aber im Streit selbständig und wurden bald darauf zu Dylans Begleitband. Nach seinem Unfall bat er sie, zu ihm nach Woodstock zu ziehen, um gemeinsam an neuer Musik zu arbeiten. In fast einem halben Jahr nahmen sie über hundert Songs auf. Neben Dylan beteiligt waren Robbie Robertson (Gitarre), Richard Manuel (Piano, Gesang), Garth Hudson (Orgel, Saxophon, Akkordeon) und Rick Danko (Bass, Gesang). Alle vier Begleiter waren Multiinstrumentalisten, so dass sie auf einzelnen Songs auch andere Instrumente spielten, auch wenn niemand festhielt, wer wann womit zu hören war. Die meisten der wenigen Schlagzeugparts stammen wohl von Robertson und Manuel. Levon Helm, der eigentliche Drummer der Hawks, stieß erst kurz vor Ende der Aufnahmen wieder dazu – er hatte die Band verlassen, kurz nachdem sie mit Dylan zu arbeiten begonnen hatte. Entnervt von den aggressiven Reaktionen des Publikums auf Dylans ‚Elektrifizierung‘ suchte er nach einer Zukunft außerhalb des Dylan-Camps und arbeitete zeitweise auf einer Bohrinsel im Golf von Mexiko. Auf Dauer hielt er es jedoch ohne seine Freunde nicht aus, und so ist er auf einigen Höhepunkten der Sessions zu hören, darunter auf „Odds And Ends“ und dem bedrohlichen „This Wheel’s On Fire“.

Über Monate hinweg spielten die Musiker fast jeden Tag zusammen, zunächst im ‚Red Room‘ von Dylans Haus, dann aber meist im Keller des kleinen Anwesens, das Manuel, Danko und Hudson im nahen West Saugerties gemietet hatten. Sie nannten es ‚Big Pink‘, weil die Fassade in auffälligem Rosa gestrichen war. Die Sessions liefen meist nach dem gleichen Muster ab, das Robbie Robertson in seiner Autobiographie Testimony beschreibt. Normalerweise wärmten sie sich mit alten Songs auf. Darunter waren Folk-, Blues- und Countrynummern, aber auch ältere Eigenkompositionen von Dylan wie „Blowin’ In The Wind“ oder „One Too Many Mornings“. Dann setzte sich der Sänger an die Schreibmaschine und schrieb an neuen Stücken, gelegentlich auch an Gedichten, während Robertson den Keller für die Aufnahme vorbereitete. Dort arbeiteten sie an Dylans neuen Kompositionen, spielten sie einige Male durch, bevor sie sie aufnahmen. Wenige wurden mehr als einmal aufs Band gebracht, zumal das Material teuer war und gespart werden musste. Garth Hudson, der technisch Versierteste der Hawks, bediente das Tonbandgerät.

Die neuen Kompositionen waren nicht für ein neues Dylan-Album gedacht. Vierzehn von ihnen wurden auf kurzlebigen Azetat-Schallfolien an Musiker versandt, die vielleicht an den Liedern interessiert waren. Das warf eine ganze Reihe von Hits ab: Das Folk-Trio Peter, Paul & Mary übernahm den Song „Too Much Of Nothing“, The Byrds eröffneten ihr Country-Album Sweetheart Of The Rodeo (1968) mit „You Ain’t Going Nowhere“ und Manfred Mann landete einen Nummer-Eins-Hit mit „The Mighty Quinn“. Mindestens 115 Songs in 139 Aufnahmen sind erhalten, obwohl die Musiker sicher noch einige mehr einspielten. Nachdem Monate mit der Arbeit an den Songs verflossen waren, hörte die Routine so plötzlich auf, wie sie begonnen hatte. Dylan flog einige Male nach Nashville, um in Sessions von jeweils wenigen Stunden John Wesley Harding einzuspielen, sein nächstes reguläres Album. Es enthielt keinen einzigen Song aus den Kellersessions. The Hawks benannten sich in The Band um und nahmen ihr offizielles Debüt Music From Big Pink (1968) auf. Dem Titel zum Trotz entstand es in einem New Yorker Studio, aber wie im Keller wurden die Songs live eingespielt, darunter gleich mehrere Stücke, die während der Sessions mit Dylan geschrieben wurden.

Damit wäre die Geschichte der „Basement Tapes“ auch schon zu Ende. Nur tauchte im Juli 1969 ein Doppelalbum in US-Plattenläden auf, das auf der weißen Hülle nichts als einen Stempel mit dem Titel Great White Wonder trug. Es enthielt Unveröffentlichtes aus verschiedenen Phasen von Dylans Karriere, Aufnahmen aus einem Hotelzimmer in Minneapolis, die vor seinem Weggang nach New York entstanden, Outtakes aus offiziellen Studioalben, am Ende einen Auftritt in der Johnny Cash Show. Dazwischen fanden sich sieben Songs, die in Big Pink entstanden waren und die das meiste Aufsehen erregten.

Great White Wonder war nicht nur der erste prominente Bootleg der Popgeschichte, es war auch ein veritabler Erfolg. Die Plattenhändler Ken Douglas und „Dub“ Taylor, die hinter der Veröffentlichung standen, setzten Tausende von Exemplaren ab. Neben Liver Than You’ll Ever Be, einer Aufnahme der Stones von ihrer 1969er US-Tour, gilt Great White Wonder bis heute als erfolgreichster Bootleg überhaupt; es wurde wohl eine sechsstellige Zahl von Exemplaren verkauft. Selbst Radiostationen spielten arglos die Platte, da sich noch keine Praxis für den Umgang mit illegalen Aufnahmen gebildet hatte. Die so genannten „Basement Tapes“ wurden so ein Mythos, „a rumor more than anything else“ wie Greil Marcus später in den Liner Notes zum Album schrieb. Da war es nur konsequent, dass Douglas und Taylor auf der Sammlung Great White Wonder Vol. II (1970) noch einmal sechs Kelleraufnahmen nachschoben.

Das alles geschah selbstverständlich zu Dylans Ärgernis, aber da er sich in diesen Jahren selbst in einer Schaffenskrise befand, unternahm er zunächst nichts. Oder fast nichts: Für den Sampler Bob Dylan’s Greatest Hits Vol. II (1971) nahm er vier der Basement-Songs neu auf. Erst Jahre später kehrte er – auf Robbie Robertsons Initiative – zu den Originalaufnahmen zurück. Dazu brauchte es vielleicht erst die Wiedervereinigung mit The Band, mit der er Planet Waves (1973) und das Livealbum Before the Flood (1974) vorlegte, und die Großtat Blood on The Tracks (1975), die sein Selbstbewusstsein stärkten. Am 26. Juni 1975 erblickten The Basement Tapes das Licht der Welt – als Doppelalbum, wie schon Great White Wonder. Auf dem Klappcover ist ein seit den Aufnahmen um acht Jahre älterer Dylan zu sehen, der so tut, als würde er auf einer Mandoline fiedeln, neben ihm ein Tonbandgerät (Tapes!) und ein Karton, auf dem zwei Spulen liegen. In einem verrauchten Heizungskeller sind hinter ihm The Band zu sehen und noch dahinter sowie auf der Rückseite des Klappcovers Gestalten, die auf die unterschiedlichen Songs anspielen sollen. Neben generischen Figuren wie einem Jahrmarkts-Gewichtheber, einem Transvestiten, einer Balletttänzerin oder einem Feuerschlucker gibt es dort auch Charaktere, die sich direkt auf Songs beziehen: Quinn the Eskimo (der auf dem ‚fertigen‘ Album gar nicht besungen wird), eine Matrone in einem T-Shirt mit der Aufschrift ‚Mrs. Henry‘ und ein Kleinwüchsiger, der ‚Tiny Montgomery‘ sein könnte. Eine faszinierende Halbwelt der abgelegenen Käffer und der Jahrmärkte, die es so vielleicht nie gegeben hat und die Todd Haynes in seinem verfremdenden Dylan-Biopic I’m Not There von 2007 liebevoll als Städtchen Riddle in Missouri inszenierte, zugleich im 19. Jahrhundert und in der Gegenwart angesiedelt.

Diese 24 Songs waren allerdings nicht einfach mit den Kelleraufnahmen identisch. Um die schlechte Soundqualität zu verbessern, mischten Robertson und Dylans damaliger Haus-Tontechniker Rob Fraboni sie von Stereo auf Mono. Sie konzentrierten sich auf die von Dylan geschriebenen Songs und ließen die zahllosen Coverversionen außen vor, so dass die Auswahl stärker wie ein integrales Dylan-Album wirkte. Hier und da kamen neue Instrumentalspuren dazu. Außerdem trat The Band hier nicht nur als Begleitung auf: Zu sechzehn Aufnahmen mit Dylan kamen acht Songs, die die Gruppe allein spielte und die im Umfeld von Music From Big Pink entstanden waren. Auch hier wurde mit Overdubs nachgeholfen. In mindestens einem Fall – dem von Dylan geschriebenen „Don’t Ya Tell Henry“ – begann man noch einmal von vorn, weil man die Basement-Aufnahme mit ihrer berserkerhaft gespielten Posaune als unbrauchbar empfand. In der Rückschau ist Robertson nicht allzu glücklich mit dem Ergebnis: „[W]e did all that was possible at the time to make the music sound more presentable and less like a field recording. We didn’t want the public to feel ripped off. When we looked back on it later, though, we realized we liked field recordings.“

Es war diese bearbeitete Form, in der ich im Herbst 2003 auf The Basement Tapes stieß. Das Album sprach sofort zu mir, weil ich selbst lange in Kellerbands gespielt hatte und nun wieder in einer war, gemeinsam mit anderen Doktoranden der Germanistik. Der Klang war trotz der Überarbeitung verwaschen und dreckig, wie man es von ein paar Mikrofonen in einem Kellerraum erwarten kann; darin erinnerte er mich an Exile On Main Street (1972), mein Lieblingsalbum der Stones, das die Band zu großen Teilen im Untergeschoss von Keith Richards’ Anwesen an der Côte d’Azur aufgenommen hatte. Auch bei Dylan lassen sich kaum die einzelnen Instrumente ausmachen: Ist da noch ein Klavier hinter der Orgel zu hören? Wie viele Gitarren spielen mit? Wer singt da eigentlich im Hintergrund – ist das Rick Danko oder Richard Manuel? Die Musik riss mich trotzdem sofort mit, vielleicht, weil mich der Sound an Exile On Main Street erinnerte. Auf den Dylan-Stücken sind fünf, manchmal sechs entfesselte Musiker zu hören, deren Spielfreude in jeder Sekunde zu spüren ist, die auch mal spontan in Gelächter ausbrechen oder die – wie Robbie Robertsons Schlagzeug auf „Apple Suckling Tree“ – erst allmählich in den richtigen Rhythmus hineinholpern. Die Musik ist sehr irdisch und passt zur ländlichen Umgebung, in der sie entstand, ohne je pastoral zu wirken. Das unterscheidet sie von anderen Werkphasen Dylans. In gewissem Sinn kehrte er hier zu seinen Anfängen zurück, nämlich zu alten Songs unterschiedlichster Herkunft, die er neben denen Woody Guthries auch noch spielte. Manche stammten aus den 1920er und 1930er Jahren, andere reichten bis in die Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs oder das alte England vor der Mayflower zurück. Die eigenen Kompositionen, zu denen er sich Anfang der 1960er Jahre vorarbeitete, beruhten auf anderen Rezepten: so die die ‚Topical Songs‘ wie „A Hard Rain’s Gonna Fall“, „Masters of War“ oder „The Lonesome Death of Hattie Carroll“, mit denen er sich – gewollt oder nicht – in ganz aktuelle Belange einreihte, in die Bürgerrechts- und Antikriegsbewegung der frühen 1960er Jahre. Dass er sich von ihr zurückzog, nachdem er doch gemeinsam mit Martin Luther King beim Marsch auf Washington aufgetreten war, nahm ihm selbst eine Weggenossin und Freundin wie Joan Baez übel. Es waren die Angst und die Erfahrung, vereinnahmt zu werden, die Dylan noch Jahre später spürte, wie er in seiner Autobiographie Chronicles schreibt:

As far as I knew, I didn’t belong to anybody then or now. […] but the big bugs in the press kept promoting me as the mouthpiece, spokesman, or even conscience of a generation. That was funny. All I’d ever done was sing songs that were dead straight and expressed powerful new realities. I had very little in common with and knew even less about a generation that I was supposed to be the voice of.

Es folgte die Flucht aus einer als rigide empfundenen Form engagierter Kunst, der Aufbruch in eine Poesie, die wesentlich von der lyrischen Moderne geprägt war, von Autoren wie Brecht, Rimbaud und T.S. Eliot. Die surrealen Texte seiner Rocksongs der Jahre 1965/66 wollten etwas genuin Neues: die Synthese von Rock ’n’ Roll, Folk und poetischer Energie, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte – und wie sie auf Dauer vielleicht auch nicht durchzuhalten war. Wohin hätte dieser Weg nach Blonde On Blonde führen sollen, hätte Dylan nicht die Chance ergriffen, sich zurückzuziehen? Und trotzdem hofften seine Fans auch während des selbst gewählten Exils auf seine Weisungen. Das galt sogar für seine Mitmusiker:

[Robbie Robertson] says to me, „Where do you think you’re gonna take it?“ I said, „Take what?“ „You know, the whole music scene.“ The whole music scene! […] it was like dealing with a conspiracy. No place was far enough away. I don’t know what anybody else was fantasizing about but what I was fantasizing about was a nine-to-five existence, a house on a tree-lined block with a white picket fence, pink roses in the backyard. […] After a while, you learn that privacy is something you can sell, but you can’t buy it back.

So gesehen, sind The Basement Tapes der Versuch, sich von äußeren Ansprüchen freizuschwimmen, ein Weg zurück zu den Anfängen, was sowohl für Dylan selbst als auch für die historische Tiefe der Musik gilt. So sehr die Lieder an einem mythischen Amerika teilhaben, so sehr tritt Dylan als Person, als Dichter hinter ihnen zurück. Keine fiebrigen Panoramen, keine emphatische Sprachakrobatik wie auf Highway 61 Revisited oder Blonde On Blonde, sondern eine bewusste Einfachheit, bei der der Dichter Dylan hinter einer einfachen Sprache und den von ihm geschaffenen Charakteren zurücktritt. Das Amerika von „Crash On The Levee“ oder „Lo And Behold!“ könnte das der 1860er ebenso wie das der 1960er Jahre sein. Überhaupt sind viele Songs im besten Sinne zeitlos. Das zeigt sich, wenn man die Songs des ‚fertigen‘ Albums im Kontext der gesamten Aufnahmen hört, die erst 2014 als Teil der Bootleg Series erschienen. Wüsste man es nicht, wäre bei vielen Songs nicht zu entscheiden, ob sie von Dylan oder von anderen stammen, ob sie gerade geschrieben oder Jahrzehnte alt waren. Mitreißend sind aber nicht nur die Lieder, mitreißend ist vor allem ihre Aufführung. Das Spontane, Provisorische, Garth Hudsons Jahrmarktsorgel, Dylan, der während „Please, Mrs. Henry“ in Lachen ausbricht und seinen Vortrag gerade so eben zu Ende bringt. Vor allem aber der gemeinsame Gesang von Dylan, Danko, Manuel und manchmal wohl auch Helm und Robertson. Der Eindruck einer verschworenen Gemeinschaft entsteht, obwohl und gerade weil der Vortrag nicht perfekt ist, manchmal ausgelassen, manchmal zum Herzzerreißen emotional, wie im kryptischen „Tears Of Rage“, das The Hawks mit einem hohen, inbrünstigen Chor begleiten. Damit verglichen wirken die acht Stücke, auf denen The Band allein spielt, sauber und aufgeräumt. Auch hier gibt es Höhepunkte, den fiebrigen Groove von „Yazoo Street Scandal“ oder das Traditional „Ain’t No More Cane (On The Brazos)“, von dem es auch eine Version mit Dylan gibt. Aber alles in allem fallen sie in ihrer Intensität ab.

Aber wovon handeln The Basement Tapes eigentlich? Nicht umsonst beginnt die Liedersammlung mit „Odds And Ends“ – Krimskrams, Kleinigkeiten, Kinkerlitzchen, ein Verweis auf das Spielerische und bewusst Zurückgenommene, das nun folgen wird. Die Lieder zeichnen obskure Charaktere wie den schon genannten, irgendwie zwielichtigen „Tiny Montgomery“, der jemandem aufträgt, er solle „ev’rybody down in ol’ Frisco“ von ihm grüßen. Anderes ergeht sich in surrealen Sprachbildern, die aber hier eher humoristisch klingen:

Yes, the comic book and me, just us, we caught the bus.
The poor little chauffeur, though, she was back in bed.
On the very next day, with a nose full of pus.
Yea! Heavy and a bottle of bread.

Einige Songs erreichen eine existenzielle emotionale Tiefe, wie das bittere „Tears Of Rage“, in dem ein Vater über seine undankbare Tochter klagt:

Tears of rage, tears of grief,
Why must I always be the thief?
Come to me now, you know
We’re so alone
And life is brief.

Greil Marcus führt diese Tiefe darauf zurück, dass Dylan und seine Mitmusiker aus alten Folksongs schöpfen, in denen sie etwas Selbstverständliches ist, namentlich die Akzeptanz des Todes. In wieder anderen Songs fehlt zwar diese Tiefe. Stattdessen ordnen sie sich in andere Traditionen ein: „Nothing Was Delivered“ klingt wie ein Lied aus dem Western-Saloon, „Down In The Flood“ oder das von Richard Manuel gesungene „Long-Distance Operator“ sind vom Chicago Blues der 1940er und 50er Jahre inspiriert. Immer wieder nehmen die Texte Zitate und Anspielungen auf frühere Songs auf, das ganze reiche Repertoire, über das Dylan verfügt und das er den ganzen Sommer lang mit den Hawks zelebriert – das Gegenteil des blumenbestreuten Weges, den die Beatles gerade mit Sergeant Pepper oder Pink Floyd mit ihrem Debüt The Piper At The Gates of Dawn einschlagen. Mag sein, das es ‚nur‘ Krimskrams ist, was Robertson und Fraboni auf dieser Platte versammelt haben – aber was für welcher.

Das Land auf Dylans Platte trägt auch unheimliche, ungastliche Züge, wenn auch erst auf den zweiten Blick. „Clothes Line Saga“ etwa bleibt beim flüchtigen Hören nur kryptisch. Was soll denn das für eine Geschichte sein? Zu hören ist die Erzählung einer Familie, die ihre Wäsche abnimmt, welche aber nicht richtig trocken wird. Neugierige Nach­barn fragen sie aus:

I reached up, touched my shirt,
And the neighbor said, „Are those clothes yours?“
I said, „Some of ’em, not all of ’em.“
He said, „Ya always help out around here with the chores?“
I said, „Sometime, not all of the time.“
Then my neighbor, he blew his nose
Just as Papa yelled outside,
„Mama wants you to come back in the house and bring them clothes.“
Well, I just do what I’m told,
So, I did it, of course.
I went back in the house and Mama met me
And then I shut all the doors.

Das Rätsel löst sich erst auf, wenn man weiß, dass der Song auch den Titel „Answer To Ode“ trägt; so hatte es Garth Hudson auf die Hülle der Tonbandspule geschrieben. Damit bezieht er sich auf „Ode To Billie Joe“ der Sängerin Bobbie Gentry, einen Sommerhit des Jahres 1967 – ein blues-infiziertes Stück, das ohne sein Streicherarrangement gut nach Big Pink gepasst hätte. Eine Ich-Erzählerin berichtet vom Selbstmord ihres Freundes, während ihre nichtsahnende Familie mit am Tisch sitzt. Vater, Mutter und Bruder reden nonchalant über den Toten, ohne dass sie merken (oder merken wollen), dass ihre Tochter um ihn trauert. Warum Billie Joe McAllister sich umbringt, wird nie gesagt. Doch während Gentrys Song wenigstens den Selbstmord offen benennt, bleiben bei Dylan nur raunende Andeutungen zum Missmut und Misstrauen der Familie. Dylans Song ist damit Parodie und Hommage zugleich. Ganz klar sind die Linien also auch hier nicht gezogen.

Ein Großteil der Songs blieb 1975 außen vor, zum Beispiel „I Shall Be Released“, „Minstrel Boy“ oder „The Mighty Ouinn“, die Dylan schon veröffentlicht hatte, wenn auch teils in anderen Versionen. Dasselbe gilt für ältere Dylan-Songs, an denen man sich im Keller versuchte. Aber auch „Sign On The Cross“, mit über sieben Minuten die längste aller Basement-Aufnahmen, fehlt. „The sign on the cross is what you might need the most.“ – Ist die religiöse Innigkeit ernst zu nehmen, deutet sie auf Dylans offen christliche Phase ein gutes Jahrzehnt später voraus? Oder wird die Haltung hier wie eine Maske angelegt und eine religiöse Attitüde parodiert, wie es später die Stones im Country-Song „Far Away Eyes“ (1978) taten? Bei anderem ist schlicht nachvollziehbar, warum es fehlt, etwa bei dem beschwingten „All You Have To Do Is Dream“, schon mit Helm am Schlagzeug, bei dem die Musiker von ihrer eigenen Euphorie so mitgerissen werden, dass sie den Chorus nicht weniger als fünf Mal wiederholen. Trotz dieser Auslassungen wirken gerade die bearbeiteten „Basement Tapes“ wie ein stimmiger, in sich geschlossener Zyklus. In ihrem ganzen Reichtum kann man die Musik von Dylan und den Hawks erst in der Bootleg Series hören. Trotzdem ist es diese, die aufpolierte Version, die mir von allen Dylan-Alben am meisten ans Herz gewachsen ist.

 

Dieser Beitrag wurde dem von Dieter Lamping und Sascha Seiler herausgegebenen Sammelband May your songs always be sung. Bob Dylans große Studioalben entnommen:

Titelbild

Dieter Lamping / Sascha Seiler (Hg.): May your songs always be sung. Bob Dylans große Studioalben.
Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2021.
160 Seiten , 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783936134803

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