In den Abgründen des Nichterinnerns

Mischa Mangels „Ein Spalt Luft“ verhandelt die rückblickende Anverwandlung an das eigene Ich

Von Marcus NeuertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcus Neuert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Mann Anfang dreißig versucht Fakten über die Zeit seiner frühesten Kindheit zu erhalten: der namenlose Protagonist und Ich-Erzähler hat zwischen dem zweiten und dem vierten Lebensjahr einundzwanzig Monate allein mit seiner Mutter verbracht, bevor diese wegen einer schweren Psychose und aufgrund behördlichen Eingreifens das Kind dem getrennt lebenden Vater zur alleinigen Betreuung überlassen musste.

In dieser Zeit, so wähnt der Betroffene unterschwellig, müssen sich für ihn entscheidende, vielleicht verstörende Dinge zugetragen haben, die seinen merkwürdigen Schwebezustand zwischen unauffälliger Angepasstheit und haltlosem Tagtraum, seine starke Introversion erklären könnten.

Die Mutter hatte sich mit dem Kind während dieser Zeit nach der Trennung vom Vater fast vollkommen von Familie und Freundeskreis zurückgezogen. Der aus dieser Konstellation heraus zu vermutenden über-engen Mutter-Sohn-Beziehung versucht der Protagonist nun nachzuspüren. Da seine Erinnerung wie die der allermeisten Menschen nicht in diese frühe Phase seiner Kindheit zurückreicht und allenfalls bedrohliche und surreal anmutende Träume sowie präkognitive Gedächtnissplitter auf diesen Lebensabschnitt verweisen, ist er auf die Zeugnisse seiner Mitwelt angewiesen.

Der Kontakt zur nach wie vor psychisch labilen Mutter war über Jahre hinweg ganz abgerissen und besteht aktuell nur sehr sporadisch und vor allem nur schriftlich, so dass die Mutter keine zuverlässige Quelle darstellen kann. Es existieren lediglich einige Aufnahmen von Anrufbeantwortern, auf denen sie hauptsächlich wüste Verwünschungen gegenüber dem Vater des Protagonisten ausstößt. Die Mutter wird von der Hauptfigur daher gar nicht eigentlich zur Sache befragt, vielmehr imaginiert eine nicht näher bestimmbare Erzählebene Szenen mit ihr herbei und gibt sie aus der Perspektive der Mutter wieder.

Die Aussagen des Vaters, der Schwester der Mutter, des Großvaters mütterlicherseits und nicht zuletzt die behördlichen Niederschriften zu seinem familienrechtlichen Fall und der Krankenakte der Mutter sind nur vermeintlich handfestere und eindeutigere Positionen, denn sie fokussieren auf unterschiedliche Details, versuchen von eigener Verantwortlichkeit abzulenken und stellen das mit dem Versuch der Selbstrekonstruktion befasste Ich vor immer neue Probleme.

Aus zahlreichen Rückblicken, traum- und albtraumartigen Sequenzen, bei denen offen bleibt, ob sie unter Einnahme von Halluzinogenen oder einfach nur aufgrund der starken Vorstellungskraft des Protagonisten zustande kommen, aus den Erinnerungen der Verwandten, märchenhaften Gleichnissen, welche das Geschehen atmosphärisch flankieren und lyrischen Einschüben erschafft Mischa Mangel aber nur scheinbar so etwas wie einen erzählerischen Quilt.

Das auf den ersten Blick collagierend wirkende Verfahren mit unterschiedlichen Textsorten und Gestimmtheiten, mit seinen ständig wechselnden Perspektiven vom Ich zu einer Selbstbeobachtung in der dritten Person Singular, der direkten Rede des Vaters, den indirekt wiedergegebenen Dialogpassagen mit den Verwandten und der nüchternen Aktensprache legt in Wirklichkeit für das Lesepublikum jede Menge Fäden aus, die es nach und nach aufzunehmen und miteinander zu verknüpfen gilt. Beim Lesen wird das feine Textgespinst quasi noch einmal mitgewoben, und mehr und mehr verliert sich der Eindruck des Bruchstückhaften, freilich ohne zu eindeutigen Ergebnissen zu führen. Das Geschehen, das Rätsel und mögliche Lösungen bleiben in der Schwebe.

Mischa Mangel belohnt seine Lesenden nicht mit dem „Was“, sondern mit dem „Wie“, mit einer Fülle eindrucksvoller Szenen, die nicht selten filmisch wirken, wie etwa der Schlusspassage, in welcher der Protagonist ein ganzes Kuchenblech voller Schlüssel verspeist, was als Abschluss der Suche nach Wahrheit gedeutet werden könnte, die ohnehin nicht mehr zu rekonstruieren ist. Doch der Autor drängt seinem Publikum diese Lesart nicht auf, vielmehr verknüpft sich die Poesie seiner Worte auf berührende Weise mit einer alle Register imaginativer Bildsprache ziehenden Beschreibung von realen und surrealen Abläufen, die nach und nach ein stimmiges Psychogramm der Hauptfigur erzeugen – und die Lesenden vielleicht ein wenig ratlos, aber fasziniert zurücklassen.

Titelbild

Mischa Mangel: Ein Spalt Luft. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
270 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429891

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