Eine Hausapotheke zu Meta – und zu Physik

Ingolf Brökels Gedichtband „friedenserhaltungssatz“ liefert neue Perspektiven auf Alltagsbeobachtungen, auf Naturwissenschaften und auf Transzendentes

Von Nils BernsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nils Bernstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

friedenserhaltungssatz (II)

im fernsehen
das zerstörte haus
durch krieg: wo ist
diese energie hin

du nimmst sie
nicht wahr
und schreibst
für den frieden.

Gottfried Benn praktizierte als Arzt, Franz Kafka war Jurist. Dies sind für den deutschsprachigen Raum womöglich die prominentesten Beispiele, bei denen Autorschaft mit einem (Brot-)Beruf zusammenfallen, einem Brotberuf, der auf den ersten Blick keine Affinität mit dem Dichter-Dasein hat. Ebenso auf den ersten Blick verhält es sich bei Ingolf Brökel (Jahrgang 1950, erste Publikationen 1981): Er war als Physik-Dozent an einer Berliner Hochschule tätig. Was ist der Zusammenhang nun von Beruf und Berufung zwischen Autorschaft auf der einen Seite und Medizin, Jura oder eben Physik auf der anderen Seite? Bei Benn und Kafka ist dies natürlich immer wieder Gegenstand von Publikationen. Bei Brökel lässt sich die Frage ebenso stellen. Und dies ist auch der Fall bei friedenserhaltungssatz, seiner 2020 bei Palm Art Press vorgelegten Gedichtsammlung. Bereits bei dem Terminus Satz würden etwa Philolog*innen andere Assoziationen haben als Physiker*innen.

An verschiedenen Stellen spielt Brökel bewusst mit der Doppelbödigkeit solcher Homonyme, etwa im Gedicht heimliche arten: „was machen / diese tintenfische / ich sehe / keinen grund mehr.“ Und genau diese Doppelbödigkeiten ziehen sich erfreulicherweise durch den ganzen Band. Brökel liefert luzide Alltagsbeobachtungen und rückt die vielfach wahrgenommenen, aber oft übersehenen Alltäglichkeiten in eine neue Perspektive. Bei heimliche arten sind es neben den „tintenfischen“ auch „diese kleinen / dreckfinken“. Was ergibt sich daraus? „eine spur / poesie…na klar“. Ähnliches Spiel des Perspektivwechsels auch beim Gedicht die bauern bei der eine Schachpartie aus der Sicht der Figuren geschildert wird: „auf die andere seite // wenn du es schaffst / geschieht erlösung […] meist schlägt man dich vorher / und legt dich beiseite.“

Bei dem Versuch, die Inhalte der Gedichte neben dem genannten Perspektivwechsel weiter zu kategorisieren, fallen besonders folgende Aspekte auf: Metapoetisches, Transzendentes, Sprachspielerisches und Biographisches, wobei bei letzterem auch immer wieder die Physik eingestreut wird. Gehen wir einige Beispiele der Reihe nach durch. Die metapoetischen Kommentare sind in ihrer aphoristischen Natur erhellend. Bekanntermaßen hat die Philologie keine einvernehmliche Definition des Terminus Gedicht vorgelegt. Kriterienkataloge schaffen einige Klarheit. Benn, von Hause aus Naturwissenschaftler, dem im vorliegenden Band auch einmal Reverenz erwiesen wird („als ich geboren wurde / kam ein strauß gladiolen […] aus dem labor / von dr. gottfried benn“), hat in seinem berühmten Vortrag Probleme der Lyrik von 1950 einige aufschlussreiche Eigenschaften aufgezeigt und, dem Titel entsprechend, problematisiert bzw. diskutiert. Interesse löst daher aus, welche metapoetischen Beobachtungen Brökel, von Hause aus ebenso Naturwissenschaftler, zutage fördert. So heißt es unter dem Titel calvin: „gedichte / sind strafzettel für die frontscheibe / des fortschritts // der ab und an / kurz auftaucht // und die parkuhr / glatt / für eine lyrische erfindung / hält.“ Eine durchaus pointierte Schilderung: Gedichte als Strafzettel also, ein personifizierter Fortschritt dazu, der eine Meinung zu Fiktionalität hat („lyrische erfindung“) und entgegen dem Anthropomorphismus wiederum eine Verdinglichung erfährt, indem ihm eine „frontscheibe“ zugeschrieben wird.

Allein der Auftakt, die erste Strophe, ist für sich isoliert fast ein Aphorismus, in jedem Fall ein schöner metapoetischer Kommentar. Bei diesen metapoetischen Beobachtungen und den wenigen poetischen Kommentaren, den wenigen Nennungen von anderen Dichtern – Benn wurde erwähnt, auf Enzensberger wird mit dem wasserzeichen der poesie rekurriert, „adalbert stifter“ wird genannt, auch „hans fallada“ – fällt einerseits auf, dass der Autor ein homme de lettre ist, sich mit Literatur auseinander setzt, andererseits, dass er erfreulicherweise keinem Muster gehorcht, keiner Strömung zuzuordnen ist und keinem Vorbild nacheifert. Brökel ist Brökel. Brökel hat eine eigene Stimme und er hat etwas zu sagen, wie das zum Auftakt unkommentiert und in seiner Gänze zitierte Gedicht perfekt illustriert.

Neben physikalischen und metapoetischen hat er auch etwas zu metaphysischen Inhalten zu sagen. Hierbei zeigt Brökel, dass alles erlaubt ist. Bei letzten Fragen – wo komme ich her, wo gehe ich hin – haben weder Rechtsmediziner*innen, noch Existenzphilosoph*innen, noch Kulturanthropolog*innen und auch Physiker*innen keine letzten Antworten, auch nicht im Gedicht manchmal: „wenn mir der himmel einfällt / das unendliche / fällt mir die erde, die hölle, auf // ach, am ende / bleiben schwarze löcher / selbst für sterne.“ Bei metaphysischen Betrachtungen gibt es häufig zwei Extrempositionen: Angesichts der Unendlichkeit alles Seienden zu affirmieren, dass in diesem Unendlichen alles denkbar ist entgegen der anderen möglichen Vorstellung, die eigene Existenz angesichts der Größe des Universums bis hin zur kompletten Selbstaufgabe zu minimieren (vgl. zu dieser zugegebenermaßen sehr gerafften Zusammenfassung die Ausführungen zum Thema „Gottesbeweis“ das Kapitel 26 in Alexander von Schönburgs lesenswerter Kunst des lässigen Anstands). Zwischen diesen beiden Extrempositionen ist auch in den Ausdeutungen der Gedichttexte Brökels alles möglich. Hinzu kommt immer wieder ein Nachdenken über das Memento Mori, kein Lamento indes, sondern ein legitimes Nachsinnen über den Ablauf der Zeit, ein freier fall, wie das Widmungsgedicht „für u.“ lautet: „man fällt durch / die jahre // und immer schneller / jahr für jahr // rauscht man durch / herbstwald und sommerflieder // bis die tränen kommen / und alles verschwimmt // und man anschlägt / an die erde.“ Dieser Abschluss, das Anschlagen an die Erde, ist hier natürlich doppeldeutig und bringt uns zur vorletzten Kategorie der Gedichte, den sprachspielerischen.

Bei den sprachspielerischen Gedichten ist es wie stets: Es bleibt einfach eine Geschmacksfrage. In jedem Fall aber lockern sie auf, etwa Wortspiele wie „kilohertzlich“, ein Nachsinnen unter dem Titel Physik (II): „ein stein fällt / weil einstein fällt“ oder das Finale in einer Reflektion über die Zunahme der Entropie mit dem abschließenden Wort „entropiezunahmi“. Man darf das witzig finden oder eben auch nicht. Unglaublich komisch wird es jedenfalls, wenn der Dichter solche Verse selbst liest und gegebenenfalls gar darüber ins Lachen verfällt. Bei einer Lesung geschah dies beispielsweise einmal beim Text dicke kuh, einem komischen und doppelbödigen Gedicht, das fast wie ein – zugegebenermaßen nicht komplett politisch korrekter – Witz funktioniert. Dank des Engagements des Verlages PalmArtPress kann man sich auch im Internet einige Rezitationen des Autors ansehen, etwa in der gekonnten Darbietung des Gedichtbandes in diesem Video. Oder aber auch – und dies zeigt das breite Kunstinteresse des Autors, dessen Gedichtbände häufig von Fotografien illustriert sind – in dem Trailer Häschen in der Grube zu einem Stück Abend von Erhard Ertel und Ingolf Brökel, der für sich noch viel mehr ist als nur ein Trailer, sondern eher ein versiert aufgenommener Kunstfilm. Wenn man sich ein wenig informiert, so erfährt man, dass dieser Trailer in Senftenberg aufgenommen wurde und Brökel hierbei einen Text aus seinem ersten Gedichtband liest. Senftenberg ist dann auch die Überleitung zur letzten Kategorie der Gedichte: der autobiographischen Texte.

Einige Hintergründe zu Brökel sollte man in Erfahrung bringen, um die autobiographischen Reflexionen zuordnen zu können. Die Informationen des Verlages reichen bereits aus: Physiker, der schon seit Jahrzehnten Gedichte schreibt, geboren in Sauo bei Senftenberg, einem Ort, der der Braunkohle zum Opfer fiel, Jahrgang 1950. Senftenberg taucht im Band mehrmals auf. Reflexionen über Physik gibt es allerorten, sehr schön etwa in der Abschlussstrophe von adieu physik: „die physik brachte mir bei / alles auf den punkt zu bringen / diese stelle / die unendlich klein ist / aber nicht null / die muß ich nun finden.“ Beim Thema Memento Mori muss das Lesepublikum gut aufgestellt sein, aber das Nachdenken darüber ist natürlich legitim, und letzten Endes weder nie zu spät noch jemals zu früh. Zugegeben, der Dichter kreist stellenweise etwas um sich selbst. Dazu lässt sich salopp entgegnen: Warum denn auch nicht?

Fazit: Kann man sterben, ohne Brökel gelesen zu haben? Bedauerlicherweise wird dieses Schicksal viele ereilen. Muss man Brökel gelesen haben, bevor man stirbt? Man sollte es versuchen – und wer die Rezension nun bis hier gelesen hat, darf einfach einen Klick auf die oben genannten Links wagen. Brökel ist eine von zahlreichen Dichterstimmen. Und Brökel hat eine eigene Stimme. Die vielen thematischen Annäherungsmöglichkeiten an sein Werk und an den Gedichtband friedenserhaltungssatz machen die Lektüre ausgesprochen lohnend. Gedichte zu lesen lohnt sich immer. Oder, um es mit der pointierten Rückfrage der ehemaligen Leiterin des Frankfurter Literaturhauses, Maria Gazetti, über das Lamento der Rolle der Lyrik heutigentags zu sagen: „Wenn man immer sagt, Lyrik hat es schwer, dann hat sie es auch schwer. Man kann doch genauso gut sagen: Wie, ihr lest keine Lyrik? Seid ihr wahnsinnig?“ Wir sollten dem Wahnsinn vorbeugen, Gedichte lesen und Brökel lesen.

Titelbild

Ingolf Brökel: friedenserhaltungssatz.
PalmArtPress, Berlin 2020.
114 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783962580582

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