Zwischen Angst und Freiheit

Der Literaturwissenschaftler Peter Czoik bündelt in „Dekameron 21.0“ zehn vornehmlich geisteswissenschaftliche, teils eigenwillige Perspektiven auf die aktuelle Viruskrise

Von Marcus NeuertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcus Neuert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Inzwischen sind rund anderthalb Jahre vergangen, in welchen ein virales Phänomen weltweit so unterschiedlich perspektiviert wurde wie Weniges in den letzten Jahrzehnten: von lapidaren Nicht-Existenz-Erklärungen bis hin zur Verkündung der ultimativen Zombie-Apokalypse sind auch hierzulande alle denkbaren Standpunkte laut geworden. Was wie der Corona-Komplex so ubiquitär und im wahrsten Sinne des Wortes in aller Munde ist, kann entweder geschluckt oder ausgespien werden. Unter dem Einfluss der verantwortlichen Politik und der jeweiligen Nachrichtenlage ist es jedoch kaum möglich, sich der Thematik zu entziehen, und so bleibt neben der tagesaktuellen Berichterstattung und den entsprechenden Kommentaren in sämtlichen Mainstream- und Nischenmedien auch eine literarische Aufarbeitung nicht aus. Der Markt ist inzwischen geradezu überschwemmt mit Publikationen, die sich aus fiktionaler, spekulativer, (pseudo-)wissenschaftlicher, psychologischer und gesellschaftlicher Warte mit der Thematik beschäftigen.

Boccaccios Decamerone bildet für das vorliegende Projekt in gewisser Weise den spiegelbildlichen Ausgangspunkt: Aus den erzählenden sieben Frauen und drei Männern im pestgebeutelten Florenz des 14. Jahrhunderts werden sieben Männer und drei Frauen aus München und Umgebung des Corona-Jahres 2020, die alle der Rückzug in die Isolation eint – bei Boccaccio in die abgeschottete Gemeinschaft eines Landsitzes, im Hier und Jetzt in das jeweilige Homeoffice mit Internetanschluss. Freilich geht es nicht um Fiktion. Der Münchener Literaturwissenschaftler und Journalist Peter Czoik hat für sein Dekameron 21.0 neun Forschende und Schreibende vorwiegend aus den Wissensgebieten Geschichte, Literatur, Philosophie, Politik, Soziologie und Religion, aber auch aus Biologie und Anthropologie um sich versammelt, die nun in zehn Essays aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln eine Zwischenbilanz der Wirkungsweisen der aktuellen Seuche auf Gesellschaft und Individuum zu ziehen versuchen. Czoik versteht das Projekt als „Krisenbuch für Kulturinteressierte“. Das Werk ist in vier Kapitel unterteilt, die sich mit früheren Seuchen, der fiktionalen Umsetzung in Literatur und Film, gesellschaftlichen sowie philosophisch-religiösen Aspekten auseinandersetzen.

Der Literaturprofessor Klaus Wolf eröffnet den pandemischen Reigen mit einer medienhistorisch interessanten Untersuchung über Pesttraktate im Bayerischen am zeitlichen Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit, gefolgt von einem Rückblick des Historikers Franz-Josef Rigo, der an die Auswirkungen der Spanischen Grippe 1918–1920 im Landkreis Miesbach erinnert – ein ausschnitthaftes Geschehen, welches als pars pro toto der Krise um so eindrucksvoller den individuellen Schicksalen nachspürt. Den vielfältigen Bezügen von Quarantäne und Literatur im Spiegel des Decamerone, aber auch von Albert Camus’ Die Pest und anderen spürt Martin Hielscher, Programmleiter für Literatur im Verlag C. H. Beck, nach. Die Soziologin und Psychologin Gunna Wendt zieht Parallelen von Camus’ politischen Essays aus Verteidigung der Freiheit zum aktuellen literarischen Schaffen und verweist auf zahlreiche historische und zeitgenössische Einlassungen auf die Pest- und Seuchenthematik in verschiedenen Gattungen.

Peter Czoik selbst steuert eine luzide Analyse der Virusdarstellung in John Carpenters Horrorkultfilm The Thing bei und verhandelt „unsere ureigensten menschlichen Ängste: Wem vertrauen wir? Ist jeder derjenige, für den er sich ausgibt?“ Schriftstellerin Ursula Haas blickt auf die Herausforderungen der Corona-Pandemie für die schreibende Zunft und tastet sich behutsam an kritische Fragestellungen in Bezug auf persönliche Freiheiten, individuelle Blockaden und gesellschaftliche Verwerfungen heran.

Der etwas ärgerliche Beitrag des einzigen Naturwissenschaftlers in der Runde, des Biologen und Anthropologen Uwe Kullnick, fällt indes aus dem Rahmen und arbeitet sich vor allem an vermeintlichen medizinischen und epidemiologischen Fakten ab, die zum Teil inzwischen bereits widerlegt sind oder zumindest kontrovers diskutiert werden, so etwa seine einseitige Beurteilung des sogenannten „Schwedischen Wegs“, dem er „eine der höchsten Sterberaten der Welt“ attestiert, die deutlich geringeren sozialen und psychischen Folgeschäden im Vergleich zu Ländern mit ausgedehnten Lockdowns und teilweise deutlich höheren Sterberaten (z.B. Frankreich, Italien, Spanien, UK, USA) jedoch vollkommen außer Acht lässt. Er verunglimpft berechtigte kritische Nachfragen an die verantwortliche Politik und den sie beratenden selektiven Kreis aus Wissenschaft und Forschung pauschal als Verschwörungsideologie und stellt sie an die Seite ganz offensichtlich unhaltbarer Annahmen: „Beinahe alles ist so unglaublich wie die Behauptung, dass bei der Umstellung auf die Sommerzeit die Sonne wartet, bis die Erde sich eine Stunde weitergedreht hat“. Da wäre eine differenziertere Sicht dem Diskurs angemessen gewesen.

Sophie Wiederroth hingegen wirft einen Blick auf die Veränderungen, welche die Pandemie für Paarbeziehungen und insbesondere die Rolle der Frau mit sich gebracht hat, und kommt zu dem Schluss, dass „die durch Covid-19 eingetretene Situation ein Lackmustest für die Liberalität unserer Gesellschaft“ sei. Der Philosoph Krisha Kops denkt über die coronäre Zwangseremitage in interkulturellen Zusammenhängen nach und macht auf die Unterschiede von quantitativen und qualitativen Freiheiten aufmerksam. Der Münchner Gemeindepfarrer Stephan Seidelmann beschließt die perspektivische Näherung an das virale Phänomen mit der zentralen Fragestellung, welche Faktoren Menschen solidarisch oder egoistisch handeln lassen.

Bei allem gebührenden Respekt, welcher dem anspruchsvollen Projekt entgegengebracht werden kann, dominiert doch in manchen Beiträgen ein etwas übernervös gezeichnetes Bild auf jedwedes Seuchengeschehen, was geeignet ist, entsprechend auf den damit kontextualisierten Corona-Komplex abzustrahlen und diesen zu aller ohnehin bestehenden Brisanz noch zusätzlich zu dramatisieren. Wenig Beachtung findet diejenige Gruppe von Menschen, die von Anfang an mit Augenmaß und Erfahrung im Umgang mit medialer Krisenaufbereitung und den Wegen politischer Willensbildung ausgestattet beobachtet, was sich medizinisch, sozial und politisch seither in Deutschland und der Welt entwickelt, und ihre Schlüsse daraus zieht.

Das Buch Dekameron 21.0 ist inzwischen bereits als eine partiell reizvolle Rezeption vorwiegend der sogenannten „ersten Welle“ der Corona-Krise lesbar. Ahnend, dass man es auch aus kulturkritischer Perspektive nicht dabei bewenden lassen sollte, hat Peter Czoik gemeinsam mit sechs weiteren Schreibenden ein Folgeprojekt im Verlag Königshausen & Neumann in Arbeit: Heptameron 21.0 – Sieben neue Schlaglichter auf eine Krise, offenbar nunmehr in Anlehnung an das Heptameron der Margarete von Navarra, einer Sammlung von amourös-erotischen Geschichten, wobei der sinnfällige Bezug zur Pest verlorenginge – aber das wäre einer adäquaten Einordnung des Phänomens Corona womöglich durchaus förderlich. Die Heilige Corona jedenfalls, der Legende nach eine frühchristliche Märtyrerin, gilt als Patronin des Geldes, der Metzger und der Schatzgräber. Das gibt der von verschiedenen Seiten immer wieder gestellten Frage nach den Nutznießern wie Amazon, Big Pharma oder den Digitalisierungsapologeten einen interessanten Spin, dem nachzugehen sich vielleicht in einem der folgenden Beiträge lohnen könnte, solange uns die Herren Spahn, Drosten, Lauterbach und die ihnen verantwortlich Nachfolgenden weiterhin durch Covids Metamorphosen hindurch zu deklinieren gedenken.

Titelbild

Peter Czoik: Dekameron 21.0. Zehn Schlaglichter auf eine Krise.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2021.
162 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783826072956

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