Gedichte auf dem Schwarzmarkt

Eine Chronik von Poesie und Gewalt im Zeitalter der Zivilisationsbrüche: Nadeschda Mandelstams „Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe“

Von Maximilian MengeringhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Mengeringhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einer Nacht im Mai 1934 beginnt für Ossip Mandelstam der Anfang vom Ende, es hämmert an die Wohnungstür. Seiner Frau Nadeschda bleibt nichts anderes übrig, als die Männer vom Geheimdienst einzulassen. Noch während die Tschekisten die Wohnung durchsuchen, händigen sie dem in Ungnade gefallenen Dichter einen Haftbefehl aus. Sein Schicksal ist damit besiegelt, es folgt die Verbannung, die ihn in mehreren Etappen immer weiter von der Machtschaltzentrale Moskau entfernt, bis er schließlich im Dezember 1938 im östlichen Winkel Russlands entkräftet in einem Lager stirbt. 

In der Sowjetunion der 1930er geschah so etwas selbst für damalige Verhältnisse durchaus anlasslos, Gründe wurden immer gefunden. Ossip Mandelstam hatte der Obrigkeit allerdings mit einem Schmähgedicht auf Stalin, das er im Bekanntenkreis vorgetragen hatte, Munition geliefert, die auch eine spätere Eloge auf den Diktator nicht mehr entschärfen konnte. Zugleich war Mandelstams Stand bereits vor seinem anklagenden Epigramm wackelig: Seine Publikationsmöglichkeiten waren arg eingeschränkt, entsprechend prekär lebte er, was wiederum seinen labilen Gesundheitszustand weiter beeinträchtig haben dürfte. Er galt als bürgerlicher Dichter, politisch unzuverlässig und dass er zudem – wie seine Frau – aus jüdischer Familie stammte, gereichte beiden sicher nicht zum Vorteil.

Rückblickend ist seine Witwe Nadeschda beinahe froh, dass die schwache Konstitution von „O. M.“, wie sie ihn in den Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe durchweg nennt, ihm ein noch längeres Leiden erspart habe. Denn sie konnte sich sicher sein, zu retten war er nicht. Dass wenigstens seinem Werk ein Nachleben beschieden war, ist alleine ihrer wagemutigen Treue und Geduld zu verdanken. Nadeschda Mandelstam lernte die Gedichte ihres Mannes auswendig, verteilte und versteckte Abschriften, die teils wie durch ein Wunder etliche Jahre später geborgen wurden. Sie führte ein unstetes Vagabundenleben quer durch die Provinzen, stets in Angst vor einer Verhaftung. Erst die Entwicklungen nach Stalins Tod gestatteten ihr die Rückkehr nach Moskau. Acht Jahre jünger als ihr Mann Ossip überlebte sie ihn um vier unbarmherzige Jahrzehnte. An eine Ausgabe der Gedichte ihres Mannes war noch nicht zu denken, als sie mit der Arbeit an ihren Memoiren begann.

Zugleich sind die Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe weit mehr als die persönliche Rekapitulation eines jäh beendeten Ehelebens. Ebenso ist dieses Buch eine scharfsinnige Totalitarismusanalyse sowie Meditation über die Fragen von Verrat und individueller Schuld. Es liefert ein kongeniales Porträt der dichterischen Ausnahmeerscheinung Ossip Mandelstam, den Nadeschda einmal als einen tragischen Unglücksbringer beschreibt: 

Das war sein Schicksal: Jeder aus den oberen Etagen, mit dem O. M. eine gemeinsame Sprache finden konnte, kam wie zwangsläufig zu Tode. 

Die weiteren Charakterstudien, wie jene der befreundeten Anna Achmatowa, Nikolai Bucharins oder des schwer zu fassenden Boris Pasternak stehen diesem Facettenreichtum in nichts nach. Ein sorgsamer Anmerkungsteil von 170 Seiten, den die Übersetzerin Ursula Keller nebst einem Nachwort beigesteuert hat, hilft derweil ungemein, alle fallenden Namen zu situieren.

Nadeschda Mandelstam hat ein so tiefschürfendes wie hellsichtiges Traktat über Dichter in dürftiger Zeit verfasst. Ihre Darstellung zeugt darüber hinaus von einem äußerst profunden Kompositionsverständnis. Denn wie sie ein Epochenpanorama entwirft, das verrät höchstes literarisches Können. So holt in ihren Schilderung der Jahre 1934-38 teils in die vorrevolutionäre Zeit aus, um an anderer Stelle in die Gegenwart der Niederschrift der 60er zu springen – und dies jeweils, ohne den Faden zu verlieren. Mandelstam erschafft einen äußert konzentrierten, dennoch persönlichen Text. Die Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe gewähren den Blick in ein Kaleidoskop. Aus Bruchstücken setzt sich das nicht mehr heile Ganze zusammen. Ein Verfahren, das wirkt wie die ästhetische Kontrafaktur des Stalinismus, der vor der Individualität menschlichen Lebens keinerlei Respekt mehr zeigte.  

Mit am eindrucksvollsten erscheint das Vermögen der Autorin, mit Urteilen sparsam umzugehen. Weder rechnet sie mit den Verrätern aus dem erweiterten Bekanntenkreis noch mit den linientreuen Regimeschergen ab, von denen sie Generationen kommen und gehen sieht. Vielmehr versucht Nadeschda Mandelstam immer wieder aufs Neue die Umstände zu ergründen, welche die Menschen zu so erbitterter Grausamkeit gegeneinander bewegen. Auch sich selbst schont sie in dieser Hinsicht nicht, wenn sie bekennt: 

Wir alle gingen den Weg des geringsten Widerstands. Wir schwiegen, in der Hoffnung, man möge nicht uns, sondern unseren Nachbarn töten. Wir wussten nicht einmal, wer unter uns ein Mörder war und wer einfach nur sein Leben durch Schweigen rettete.

Dabei ist ihr stets klar, dass sich ihre künftige Leserschaft, die den Terror nicht (üb)erlebt hat, schwerlich einen Begriff wird machen können von dessen Ausmaß. Und genau hier beginnt die Aufgabe der Erinnerungsarbeit, beispielsweise im Rahmen eines Exkurses über die Widrigkeiten der Wohnungslosigkeit: 

Spätere Generationen werden die Bedeutung von ‚Wohnraum‘ in unserem Leben nicht begreifen können. Wohnraum war Grund für zahlreiche Verbrechen. 

Nahezu skurril wiederum lesen sich Passagen über einen Schwarzmarkt für Gedichte, auf dem Bewunderer Ossip Mandelstams ihm bei geheimen Treffen Texte (die er selbst häufig nicht für seine besten hielt) abkauften oder klammheimlich gegen Lebensmittel tauschten.

Allen Einblicken in den historischen Abyss zum Trotz singen Nadeschda Mandelstams Erinnerungen unbeirrt das Lob der Poesie. Auf jede hinzugekommene Repression oder Verschlechterung der Lage folgt bei ihr rasch die Erkenntnis: wie kraftvoll müssen Gedichte sein, dass sich selbst die brutalsten Polit-Funktionäre derart vor ihrer Wirkung fürchten! Ohnehin gehören die Episoden, die sich der Dichtung widmen, zu den erstaunlichsten. Dann wird überaus anregend über den Zusammenhang von Dichten und Gehen oder den fundamentalen Unterschied zwischen Buch und Heft als poetische Verbundformen sinniert. Auf jeder Seite verleihen Nadeschda Mandelstams Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe dem Werk ihres Mannes Ossip, das auch in der deutschsprachigen Literatur von Paul Celan bis Marcel Beyer seine untilgbaren Spuren hinterlassen hat, weitere Kontur. Und gesellen sich diesem gleichbedeutend hinzu.

Titelbild

Nadeschda Mandelstam: Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe.
Aus dem Russischen von Ursula Keller.
AB - Die andere Bibliothek, Berlin 2021.
793 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783847720355

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