Stationen einer Freundschaft

Klaus E. Bohnenkamp ediert den Briefwechsel zwischen Rudolf Kassner und Houston Stewart Chamberlain und schreibt wie nebenher eine Art Doppelbiografie

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Anfang waren Respekt, Wertschätzung und Bewunderung, am Ende Distanz und Entfremdung. Die Beziehung zwischen Rudolf Kassner und Houston Stewart Chamberlain begann im März 1900. Jener, beeindruckt von dessen 1899 erschienenen Grundlagen des 19. Jahrhunderts, hatte den Diederichs-Verlag bewogen, seinen Erstling über die Mystik, die Künstler und das Leben, ein von Nietzsche beeinflusstes Buch mit Essays über englische Maler und Dichter des 19. Jahrhunderts, dem älteren, bereits mit schriftstellerischem Ruhm bekränzten Kollegen zukommen zu lassen. Er wolle damit, schrieb er begleitend, eine „bescheidene Huldigung“ darbringen. Es gebe nämlich in den Grundlagen „Stellen, die einfach groß“ seien, und manches berge so etwas wie „Erlösung“. Der so Gewürdigte machte sich sogleich an die Lektüre, wenige Tage später antwortete er, voll des Lobes. Er bezeichnete Kassners Werk als „eines der exquisitesten Werke“, das ihm bis dahin unter die Augen gekommen sei. 

Ein gutes halbes Jahr später erwächst daraus ein Treffen in Chamberlains Wiener Wohnung, gelegen im VI. Bezirk, Blümelgasse 1. Dem Erstkontakt folgen unzählige weitere, zeitweise trifft man sich fast jede Woche, korrespondiert, tauscht sich aus über literarische Pläne und Erzeugnisse, berät, würdigt und kritisiert, liest aus eigenen und fremden Texten. Alsbald bildet sich ein Kreis von Gleichgesinnten mit Chamberlain als Mittelpunkt. Neben dessen Frau Anna und Kassner sind dabei der Indologe Leopold von Schroeder, der Diplomat und spätere deutsche Außenminister Ulrich von Brockdorff-Rantzau, der gerade eben zwanzigjährige Baltendeutsche Hermann von Keyserling, der später sagen wird, Kassner habe „in seiner geistigen Entwicklung“ eine prägende Rolle gespielt. Chamberlain sei ein „Mann von einnehmender Liebenswürdigkeit“, er besitze „Güte“ und verfüge über „einen gewissen Hellblick“, urteilte Kassner. Chamberlain seinerseits vertraut Cosima Wagner an, er „interessiere“ sich für einen „jungen Schriftsteller und Gelehrten von seltener Begabung“, dieser sei außerordentlich belesen, schon viel herumgekommen und umfassend informiert über die aktuelle „Welt der Feder“. Kassner revanchiert sich und huldigt dem Meister, er sei sein „Gewissen“. Mit allem, was er noch zu schaffen zu hoffe, werde dieser „verknüpft“ sein: „Unsere Freundschaft – ich bin stolz das Wort gebrauchen zu dürfen – hat jetzt nichts mehr Zufälliges!“

Beide, Chamberlain ebenso wie Kassner, hegten tiefe Aversionen gegen die akademischen Wissenschaften und deren Rationalitätspostulate. Ihnen wähnten sie sich mit dem Primat der Einbildungskraft turmhoch überlegen. Dies, obwohl Leopold von Schroeder, der die Professur für Indologie an der Wiener Universität hielt, zum engeren Kreis der Tafelrunden und Leseabende zählte. Kassner hatte auf seine Doktorarbeit (Der ewige Jude in der Dichtung) wenig Mühe verwandt und die mündliche Prüfung nur auf Grund eines Mehrheitsentscheids bestanden. Chamberlain hatte zwar eine naturwissenschaftliche Dissertation in Genf abgeschlossen, war zum Rigorosum aber nicht angetreten. 1901 ritt er eine Attacke gegen den Althistoriker Theodor Mommsen, schimpfte ihn einen „professoralen Dummkopf“, ja einen „alten Rappelkopf und Konfusionsmeyer“, was bei Kassner, der den Gelehrten während seines Studiums im Winter 1895/96 an der Berliner Friedrich-Wilhelms Universität erlebt hatte, nicht auf Gegenliebe stieß. Nach der Lektüre von Kassners Essaysammlung über englische Dichter und Maler fühlte sich Chamberlain „erlöst aus den gräßlichen drückenden Bleikammern der Empirie.“ Den Goetheforscher Albert Bielschowsky nannte er einen „talentlosen Schuft“ und „Arschpauker“, ähnlichen Verdikten verfiel der Berliner Sprach- und Literaturwissenschaftlers Richard Moritz Meyer, der 1913 sich revanchierend an Chamberlains Gothestudie Fehler und Widersprüche bemängelte und ihm „Gehässigkeit gegen Professoren“ vorwarf, zugleich freilich „glänzende Einzelbeobachtungen“ bescheinigte. Kassner hingegen entdeckte darin einen willkommenen Widerpart gegen die, wie er formulierte, „Gemeinheit der Philologen- und Professorengehirne“. Fortan sollten deren Vertreter jedenfalls „das Maul halten“.

Es brauchte etliche Jahre, ehe beider Beziehung sich abkühlte. Die Tafelrunde in der Blümelgasse sei „zerstoben“, notierte Kassner im Dezember 1909. Chamberlains Trennung von seiner Frau Anna, die sich nach und nach zu einem wahren Rosenkrieg ausweitete, seine Heirat mit Eva Wagner und sein – nunmehr endgültiger – Einzug in Bayreuth begleitete Kassner mit kritischen Kommentaren. „Chamberlains Stellung“ auf dem grünen Hügel komme einer „Hörigkeit“ gleich, ein Eindruck, den auch Keyserling hatte, der dort im November 1909 zu Besuch weilte. Von Chamberlains neuer Existenz hatte er einen „niederschlagenden Eindruck“ gewonnen: „Er, der vormals so ängstlich auf äußere Selbständigkeit Bedachte“, sei nunmehr „eingefangen wie eine Haremsfrau und bald darauf auch vollkommen bezwungen und gezähmt.“ Nachdem Kassner Weihnachten 1913 seine kleine Schrift Die Chimäre. Der Aussätzige übersandt hatte, bricht mit Chamberlains – nicht überliefertem – Dankschreiben der direkte persönliche Briefkontakt für immer ab.

Die 1914 publizierten Kriegsaufsätze, mit denen sich Chamberlain – erfüllt von bohrenden Ressentiments – gegen England in die Bresche warf, überhaupt gegen die Demokratien des Westens, und für das focht, was er als „deutsche Freiheit“ ausrief, stießen im wilhelminischen Bürgertum vielfach auf begeisterte Zustimmung. Thomas Mann wertete in den Betrachtungen eines Unpolitischen die gegen das Vereinigte Königreich, „das Land seiner Väter“, gerichtete Polemik als „vergleichsweise entschuldbar, ja gerechtfertigt“. Kaiser Wilhelm II., dessen Lieblingsautor Chamberlain war, jubelte, nahm dessen Wort von den „geistigen Granaten“ auf und verlieh ihm als Anerkennung das Eiserne Kreuz für Nichtkombattanten.

Kassner hingegen brachte den Schriften nur „geringes Verständnis“ entgegen: sie seien „geschickt geschrieben, zum Teil töricht, gelegentlich auch infam“ urteilte er. In seiner Erinnerung an Chamberlain sprach er 1929 von „Selbstentfremdung und Selbstentartung“. Um allen Anfeindungen, die ihm trotz seines pangermanischen Eiferertums entgegenschlugen, den Wind aus den Segeln zu nehmen, ließ sich Chamberlain 1916 naturalisieren, wurde nun auch nach außen hin ein Deutscher, als der er sich innerlich bereits lange zuvor gefühlt hatte. 1917 (Demokratie und Freiheit) verbreitete er sich über die „weltgeschichtliche Bestimmung des Deutschen Reiches“, sprach von „angeblichen“ Menschenrechten und insinuierte, die britische Politik wolle Deutschland „verengländern“. Ende Dezember 1918, als der Krieg unwiderruflich verloren war, rechtfertigte er sich in einem Brief an den Diplomaten und Vizeadmiral Freiherr von Seckendorff, er sei nach wie vor überzeugt, „daß Gott den Deutschen für edle Zwecke der ganzen Menschheit zum Heile“ habe „werden und wachsen lassen.“

Insgesamt 125 Briefe und Buchsendungen hat Klaus E. Bohnenkamp, der beste Kenner von Kassners Leben und Werk, abgedruckt bzw. verzeichnet. Überflüssig zu betonen, dass die Stücke mustergültig kommentiert und kontextualisiert sind. Dabei jedoch bleibt es nicht. Bohnenkamp hat, aus profunder Kenntnis schöpfend, die Phasen zwischen den Korrespondenzen, die mal kürzer mal länger ausfallen, mit minutiös angelegten Chronologien und Itineraren gefüllt. Auf diese Weise lassen sich die Wege, die Aufenthaltsorte und die zahlreichen Reisen der Protagonisten detailliert nachverfolgen. Das Gleiche gilt für die anderer Korrespondenz- und Gesprächspartner, die sich in Kassners und Chamberlains Dunstkreis bewegten: Kassners Freund Gottlieb Fritz etwa, Marguerite Fürstin von Bismarck, die Gattin des Kanzlersohnes Herbert von Bismarck, Marie Fürstin von Thurn und Taxis, Hugo von Hofmannsthal oder das Münchener Verlegerpaar Elsa und Hugo Bruckmann, zu denen Kassner über Chamberlain Zugang gefunden hatte. Natürlich dürfen weder Cosima noch Siegfried Wagner fehlen, ebenso wenig Graf Brockdorff-Rantzau, der sich an der Gesandtschaft in Wien die ersten diplomatischen Sporen verdiente, oder Kaiser Wilhelm II., der Chamberlain und dessen Grundlagen des 19. Jahrhunderts andächtig verehrte. Die Lektüre ist durch die vielen Haupt- und Nebenpfade, die der Herausgeber und Autor bewandert, bisweilen etwas mühsam. Wer jedoch die nötige Geduld aufbringt, wird entschädigt durch eine bis in kleinste Verästelungen hineinleuchtende, wie von selbst sich kristallisierende Doppelbiographie, durch reiche Einsichten in Verkehrskreise und Netzwerke, durch Momentaufnahmen aus der Welt der Intellektuellen und Künstler, aus München und Bayreuth, aus London, Paris und Rom, vor allem aber aus dem Wien des letzten Jahrzehnts vor dem Weltkrieg.

Auf Resonanz bei den Mit- und Nachlebenden, gemischt mit Lob, Tadel und Unverständnis, trafen beide. Mit Hinweisen zur Rezeption beschließt Bohnenkamp sein Buch. Scharfe, auch politisch grundierte Ablehnung, erfuhr nur Chamberlain, Kassner nicht. Rudolf Borchardt attestierte den Grundlagen des 19. Jahrhunderts einen „barbaroiden Mangel an Wahrheitssinn“ und „totale Unfähigkeit zu wissenschaftlicher Denkweise“. Dass das Buch „zur deutschen Massenbibel werden konnte“ sei Ausdruck eines „jähen Bildungsverfalls“. Der berühmte Theologe Adolf von Harnack sah Chamberlain von einem „antijüdischen Dämon besessen“. Im Blick auf dessen rabiaten Antisemitismus war es nur konsequent, dass er und seine Frau Eva sich 1926 der NSDAP anschlossen. Nicht weniger folgerichtig erscheint, dass die Häuptlinge des Nationalsozialismus, Adolf Hitler, Josef Goebbels und Alfred Rosenberg, ihn als „Künder und Kämpfer“ für die „deutsche Widergeburt“ feierten. Er, der „Apostel der alldeutschen Idee“, habe zu jenen gehört, argumentierte 1927 die Wiener Neue Freie Presse aus Anlass seines Todes, die versucht hätten, „dem Rassedünkel historische und philosophische Begründung“ zu geben. Insofern sei ihm das „Schicksal nicht erspart geblieben, von Rassenantisemiten und Hakenkreuzlern als ihr Schutzpatron auf den Schild erhoben zu werden.“ Zwei Jahre zuvor hatte ihn die Vossische Zeitung in einem Jubiläumsartikel zum siebzigsten Geburtstag zum „Germanomanen“ ernannt. Seine „Maßlosigkeit“ und seine „Scheuklappen“ hätten den „alldeutschesten Alldeutschen an Beschränktheit“ in Sachen Politik übertroffen. Und Kassner relativierte 1929 in seiner, in der Europäischen Revue nachzulesenden Erinnerung an Houston Stewart Chamberlain: „Mein Verhältnis zu ihm war eher symbolisch als reell.“ 

Indes: beide hatten jeder auf seine Weise teil an der „Kulturgeschichte des deutschen Bildungsbürgertums“, so vor Jahren eine Formulierung des Berliner Politikwissenschaftlers Herfried Münkler. In diesem Sinne Chamberlains „Anschauungen in all ihrer anfechtbaren Problematik in die Zeitströmungen des späten 19. und anhebenden 20. Jahrhunderts einzuordnen“, und sich nicht allein mit wohlfeilen Verdammungsurteilen zu begnügen, ist das Anliegen des Buches von Klaus E. Bohnenkamp. 

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Klaus E. Bohnenkamp: Rudolf Kassner und Houston Stewart Chamberlain. Briefe und Dokumente einer Freundschaft.
Reihe: Korrespondenzen Bd. 6.
LIT Verlag, Münster 2020.
584 Seiten, 59,90 EUR.
ISBN-13: 9783643144515

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