Wer ich denn hätte gewesen sein wollen

Harald Welzer schreibt einen „Nachruf auf [s]ich selbst“, aber keinesfalls nur für sich selbst

Von Stephan WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Harald Welzer zählt zu den wichtigsten öffentlichen intellektuellen Stimmen der deutschsprachigen Länder. Er ist häufiger Gast in Kultursendungen und Talkshows, jeder seiner neu erscheinenden Beiträge wird von der Öffentlichkeit voller Spannung erwartet und mit großem Interesse verfolgt. So war es auch bei seinem neuesten Oeuvre, das dennoch einen grundlegenden Unterschied zu seinen früheren Werke aufweist.

Denn wie bereits der Titel Nachruf auf mich selbst nahelegt, bezieht sich der Autor darin auf sein eigenes Leben und nennt biographische Details, nicht zuletzt seine mannigfaltigen, abgeschlossenen wie nicht beendeten Tätigkeiten und Projekte als Journalist, Hochschullehrer, Galerist, Sänger in einer Band, Autor, Gründer und Mitgründer von Institutionen, Täterforscher, Gedächtnis- oder Transformationsforscher. Diese Aufzählung stellt keineswegs eine beliebige Auswahl dar, sondern führt direkt ins Zentrum von Welzers Interesse. Denn es geht in dem Werk primär um die Kunst oder Kultur des Aufhörens und Neu-Beginnens, sowohl individuell wir gesellschaftspolitisch.

Seine dazu angestellten Reflexionen stehen in Zusammenhang mit einem im Corona-Jahr 2020 erlittenen Herzinfarkt. Nur durch das beherzte Eingreifen seiner Ärztin und der Fürsorge von Pflegerinnen und Pflegern wurde das Leben des Autors gerettet. Dieser Umstand hatte zur Folge, dass Welzer über die Begrenztheit menschlichen Lebens nachdachte, insbesondere über dessen Ende: über die erwähnte Kunst des Beendenkönnens, des Aufhörens, auch des Abschiednehmens. 

Am Ende dieser Überlegungen entstand die Idee, einen Nachruf auf sich selbst zu verfassen: Einen Nachruf, für den potenziell Verscheidenden wichtiger als für die Hinterbliebenen, nicht zuletzt deshalb, weil der Tote den Nekrolog nach seinem Tod nicht mehr wird lesen können. Aus dieser (Selbst-)Lesbarbeit des eigenen Nachrufs ergeben sich dann weitreichende Konsequenzen für das Leben im Futur II-Modus, so der Name einer von Welzer gegründeten Stiftung für zukünftiges Leben auf der Erde, was sich in dem von ihm beinahe programmatisch geäußerten Satz zeigt: ‚Wie möchte ich gewesen sein bzw. wie möchte ich, dass man sich meiner erinnert.‘ Dazu stellt Welzer an das Ende des Buchs fünfzehn Wünsche, was in seinem Nachruf stehen sollte, wie z. B. Er konnte gut Zeit verschwenden, er hat gelernt, das Optimieren zu lassen, er hielt die richtigen Fragen für wichtiger als die falschen Antworten und schließlich: Er hat gelernt, keine Angst vor dem Tod zu haben.

In seine Überlegungen bezieht er also Konzepte zur Geschichte des Todes (Philippe Ariés) mit ein, anknüpfend an das selbstironisch humorvolle Zitat von Kurt Tucholsky „Ach, ich werde mir doch mächtig fehlen, wenn ich einst gestorben bin.“ Welzer nimmt die weit verbreitete Überzeugung auf, wonach der Mensch das einzige Lebewesen ist, das um sein Ende weiß, gleichwohl nichts daran ändern kann. Daraus zieht er die Konsequenz der Forderung nach einer Kunst bzw. Kultur des Aufhörens, wie sie die Menschen leider (noch) nicht besitzen und wozu es darüber hinaus bislang kaum theoretische Abhandlungen gibt. 

Aber Welzer wäre nicht Welzer, wenn er nicht über das Individuum hinausgehen und die Kunst des Nachdenkens über das eigene Ende nicht auf die Gesellschaft insgesamt beziehen würde. Die mangelnde Berücksichtigung des (eigenen) Endes steht in prinzipiellem Zusammenhang mit der Unfähigkeit, Enden zu antizipieren bzw. diese zu ritualisieren und somit zu vollziehen, was Welzer als defizitäre gesellschaftliche Praxis in vielen Kulturen erkennt. Die Forderung danach wiederum wird von ihm im Zusammenhang mit der seiner Ansicht nach primären Aufgabe der Planung eines gesellschaftlichen wie vor allem ökologischen Umbruchs der kommenden Jahre erhoben. Statt sich dies politisch einzugestehen, werden an Stelle konkreter Schritte schon seit Jahren nur Zielvorstellungen formuliert, d.h. nach Welzer etwas überspitzt ausgedrückt: Man gibt Klimaziele vor, um nicht handeln zu müssen (Beispiel: Kohleausstieg 2038 oder 2050). Zugleich wird der Umgang mit Leblosem immer mehr zu kultureller Praxis: „Im Jahr 2020 hat die tote Masse – also Häuser, Asphalt, Maschinen, Autos, Plastik, Computer usw. usf. – die Biomasse erstmals übertroffen.“

Geht man zudem mit Tomasius vom gesellschaftlichen Wagenhebereffekt aus, der in etwa besagt, dass die kommende Generation nicht wieder von neuem, sondern dort anfängt, wo die alte aufgehört hat und dass diese Entwicklung schon seit Jahren in eine falsche Richtung verläuft (Welzer erwähnt, dass er schon vor vielen Jahren auf einer Konferenz die Frage stellte: „What if we fail?“, wofür sich aber damals niemand interessierte.), so wird die Notwendigkeit eines schnellen Umsteuerns evident, was aber nur in Zusammenhang mit einer Kunst des Abschiedsnehmen im Sinne einer rituellen Verabschiedung zu haben ist.

Dabei gäbe es nach Harald Welzer schon jetzt überzeugende Beispiele oder Vorbilder wie er anhand der Aktivitäten und Nichtaktivitäten u. a. des Alpinisten Reinhold Messmer, des Malers Jan Vermeer van Delft, des Theaterregisseurs Tino Sehgals oder der Unternehmerin Christiane zu Salm anführt, die alle sehr erfolgreich in ihrem Beruf oder in ihrer Tätigkeit waren bzw. sind und dennoch ganz oder zumindest teilweise damit aufhörten. Vor allem das Beispiel des Regisseurs Theatermachers Tino Sehgals ist dabei von der anderen Seite her sehr aussagekräftig, weil er seine Inszenierungen als reine Perfomances im Sinne der Aufhebung der Grenze von Realität und Bühnenraum versteht, als eine sich im Augenblick vollziehende Kunst, von der kein Foto oder ähnliches gemacht werden darf, aus dem einfachen Grund, weil damit der dynamische (Kunst-, Choreografie bzw. Theater-) Prozess mit einem statischen Ende ad absurdum geführt würde. Das Ende, das nie ein wirkliches Ende ist, ist in diesen Inszenierungen paradoxerweise immer schon miteinbezogen.

Harald Welzer hat einmal mehr ein wichtiges Buch geschrieben, das radikal, vielleicht ganz im Sinne seines Werks nicht immer ganz konsequent zu Ende gedacht ist (wie er selbst schreibt). Er hat mit diesem Werk einen empfindsamen Punkt getroffen, der gerade in Corona-Zeiten uns alle angeht, die Erfahrung des Todes bzw. des Verharrens im Auge des Zyklons und die sich daraus ergebenden Konsequenzen, gerade auch für unsere individuelle wie die gesellschaftliche Lebenspraxis und Kultur des 21. Jahrhunderts. Das Buch wird allerdings vor allem diejenigen erreichen, die sowieso in die Richtung denken und schon handeln, die anderen werden, und hier ist noch mal Welzer selbst zu zitieren, auf der für sich in Anspruch genommenen Unbelehrbarkeit der „Betonköpfe“ verharren.

Titelbild

Harald Welzer: Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2021.
288 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783103971033

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