Jenseits der Idylle
Michael Krüger dichtet in „Im Wald, im Holzhaus“ über Natürliches, Allzu-Natürliches
Von Thorsten Paprotny
Der Begriff Quarantäne liegt bleischwer über dieser Zeit. Michael Krüger, Literat und Lyriker, verbringt im ersten Jahr der Corona-Pandemie eine lange Zeit in einem Holzhaus am Starnberger See – verborgen vor der Welt, schutzbedürftig, denn er leidet an Leukämie und muss sich vor jeglichen Infektionen hüten. Die Sprache schenkt Gelegenheit zur Ablenkung. Es öffnen sich Räume für nachdenkliche Beobachtungen in der Natur. Fantasievolle Spiegelungen seiner Überlegungen entstehen. Der Alltag, melancholisch getönt, bisweilen auch gelassen eingebettet in das Bewusstsein der Endlichkeit, erscheint hier in Stimmungsbildern, poetisch verdichtet und kunstvoll gestaltet.
Die Zeit der „SORGLOSIGKEIT“ sei vorüber, die „Sonntagsidylle unter blauem Himmel“ trügt. Krüger beobachtet eine neue Ernsthaftigkeit und Momente der Angst. Das scheinbar festgefügte Weltbild der wohligen Zuversicht wird unglaubwürdig, weil die Wohlstandswelt durch die Macht eines Virus aus den Fugen geraten ist:
Ferien auf dem Ponyhof,
der Tod reitet mit, ohne Sattel und Zaumzeug.
Krüger kontrastiert die stilisierte Idylle mit Bildern, die von Ingmar Bergman stammen könnten. Doch ob das Leben am Starnberger See in Zeiten der Pandemie indessen gänzlich unbekömmlich ist? Arme Menschen, überall auf der Welt, könnten daran begründet zweifeln. Michael Krüger lebt mit der Krankheit, die ihn heimgesucht hat, sammelt und studiert Diagnosen, beobachtete körperliche Vorgänge und Phänomene bei sich selbst. Er tut, was er kann – schreibt, denkt nach, fabuliert und beobachtet die Natur aus nächster Nähe:
Man weiß nicht, was man denken soll, der Wille, die Wahrheit
zu sagen, ist auch nicht mehr da, am besten, man sitzt es aus.
Warum schreibst du den ganzen Tag, fragt ein Vogel,
der in der Nähe sein Nest haben muss.
Wille und Wahrheit, die großen Worte, die großen Fragen sind geblieben, aber die Gedanken kreisen und scheinen keinen Halt mehr zu finden. Doch der Dichter kann nicht anders als schreiben, er muss, ja er möchte auch noch Worte finden. Der poetisch geformte Vogel fragt trotzdem, nicht vorwurfsvoll, neugierig und interessiert vielleicht. Die Frage ist auch berechtigt: warum schreibt der Lyriker im Schatten der Endlichkeit, wenn er – wie andere auch – nicht weiß, woran und was er denken soll? Einige meinen, so erwägt er, dass „wir“ einfach „zur Ohnmacht verurteilt“ seien – „basta“. Damit mag sich Michael Krüger nicht begnügen und auch nicht abfinden. Lyrisch erklingt eine vorsichtige, leise Melodie der endlichen Hoffnung, die trotz schwermütiger Obertöne den Gedanken an einen glücklichen Moment wahrt, auch wenn das Ende feststeht:
Aber ich gehe ins Offene, lege mich auf die Wiese, den Hölderlin
in der Tasche, und höre den Käfern zu, den unschuldigen Wanderern,
die keine Tabletten brauchen auf ihrem holprigen Weg
in den Schnabel eines Vogels.
Über den abwesenden, verschollenen oder entlaufenen Gott finden sich verstreute Notizen. Der Himmel sei nun „endgültig leer“, von dem Zeitpunkt an, ab dem „keine Flugzeuge mehr fliegen dürfen“. Nicht heute, aber „früher hätte man gesagt“: „Gottes Stunde ist angebrochen.“ Doch die Apokalypse bleibt aus, die Stille nimmt weiten Raum ein. Erinnerungen stellen sich ein, an die bis 2020 unvorstellbare Welt der Reisebeschränkungen. Der Flugverkehr kommt zum Erliegen, aber die Vögel fliegen noch. Krüger schaut ihnen zu, von einer schmerzhaften Gürtelrose geplagt. Er möchte schreiben, aber er kritzelt nur auf einem Blatt Papier herum. Die Gedanken bleiben der Endlichkeit verhaftet:
Ein Wind muss sich erhoben haben. Irgendwo lebt hier
der Tod, aber man erkennt ihn nicht. Alle sind beeindruckt
von seiner List, unbemerkt in die Häuser zu treten.
Wer darüber nachsinnt, mag erwägen, ob der Tod tatsächlich listig und geschickt sich zu bewegen scheint. Alle, die ihn verdrängen oder verkennen, bemerken ihn vielleicht bloß nicht. So scheint es, als ob es ihm gelänge, „unbemerkt“ einzutreten – wie ein unerwarteter, fast unsichtbarer, auch ungebetener Gast. Philosophisch ließen sich Krügers poetische Notizen fortspinnen. Montaigne sagte, philosophieren heiße: Sterben lernen. Anscheinend wird heute nicht mehr philosophiert, möglicherweise nicht einmal von den Philosophen dieser Zeit. Wer sich die Endlichkeit denkend oder auch leidend vergegenwärtigt, dem erscheint der so oft unbemerkte Tod vielleicht gar nicht wie ein unheimlicher, auch unheimlich leiser Gast.
Michael Krüger freut sich über wollige Weggefährten, fast emphatisch klingen seine Verse: „Ich liebe die Schafe und wäre gern eines von ihnen.“ Wer das Land- und Hirtenleben kennt, weiß auch, dass Schafe widerspenstig, ja widerborstig sein können. Oft sind Schafe eine willkommene Projektionsfläche für Beobachter, sie wirken doch so gleichmütig. So erinnert sich Krüger an das „Gift des Glücklichseins“ beim „Anblick der Schafe“. Der Dichter weiß also, dass er der Schöpfer dieser Idylle ist. Im „Herbstanfang“ zeigt sich ein anderes, realistisches Bild:
Stumm
stehen im Regen die Schafe.
Sie wissen alles über Disteln und Gras,
und Disteln und Gras wissen alles über sie.
Schafe sind erdnahe, erdverbundene Lebewesen. Die Vögel ziehen, wenn der Winter naht, in ferne Länder. Michael Krüger beobachtet sie sorgfältig. Die Schafe bleiben, so wie auch Menschen, zurück – im Regen, auch im Schnee. Ebenso ist der leuchtend blaue Corona-Himmel über dem Starnberger See klar, eiskalt und trotzdem schön, zumindest im Moment und im Auge des Betrachters. Der Dichter hat in seinem tiefernsten Werk über die Pfade des Lebens nachgedacht, in das der Tod seine Spuren überraschungsfrei einzeichnet. Das Buch schließt mit einem Gedicht, das Es muss einmal gesagt werden lautet:
Man muss Umwege nehmen, viele, nicht alle,
um das Ziel nicht zu schnell zu erreichen.
Das Ziel?
Das Ziel der Lebensreise, so erwägt die eine Leserin oder der andere Leser nun vielleicht, scheint also der Tod zu sein. Oder doch nicht? Könnte der Weg selbst, wie Konfuzius lehrte, schon das Ziel sein? Michael Krüger ermutigt, einfach weiterzugehen:
Jetzt bloß keine Angst kriegen und stehen bleiben,
denn dann war der ganze Umweg für die Katz.
Die Wege, die er einschlägt, dürfen ruhig, so wünscht er sich, noch ein wenig fortdauern. Michael Krüger ist zwar vielfach geplagt, aber wachsam, weder lebenssatt noch lebensmüde. Dieser Lyrikband macht sehr nachdenklich und verdient große Beachtung.
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