Ein Land sucht den Anschluss

Miruna Bacali analysiert in ihrer Dissertation Europaentwürfe in der rumänischen Literatur seit 1989

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mircea Cărtărescu, sicher der bedeutendste lebende rumänische Schriftsteller, meinte 2015 in seiner Dankesrede nach der Verleihung des „Buchpreises zur Europäischen Verständigung“: „Ich bin kein Autor aus Osteuropa. Ich erkenne jenes Drei-Zonen-Europa, bestehend aus einem zivilisierten Westeuropa, einem neurotischen Mittel- und einem chaotischen Osteuropa nicht an, weder geopolitisch noch kulturell, noch religiös, noch sonst irgendwie.“

In den letzten Jahrzehnten hat sich Rumänien zumindest in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht Europa angenähert. Der Zerfall der kommunistischen Regime im östlichen Teil des Kontinents hatte den Boden dafür bereitet. Mit der Aufnahme des Landes in die Europäische Union im Jahr 2007 hat diese Entwicklung ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Das bedeutet allerdings nicht automatisch, dass Rumänien auch kulturell den Anschluss gefunden hätte: Im westlichen Teil des Kontinents weiß man nach wie vor nicht all zu viel über rumänische Kultur. Das dürfte in erster Linie damit zu erklären sein, dass hierzulande viele Rumänien nach wie vor als Peripherie und Zweitklasseuropa mit allen daraus folgenden stereotypen Vorstellungen betrachten. An diesem Punkt setzt denn auch Cărtărescus heftiger Einspruch an.

Es ist also durchaus ein berechtigtes Vorhaben, nach der kulturellen Verortung Rumäniens innerhalb Europas zu fragen. Solche Debatten sind freilich nicht neu: Auch in früheren Epochen hat man die Frage nach Rumäniens Zugehörigkeit(en) diskutiert: so etwa im Vorfeld und während der Staatsbildung im 19. Jahrhundert oder dann virulent wieder in der Zwischenkriegszeit im eben erst neu entstandenen „Großrumänien“. Die Kulturwissenschaftlerin Miruna Bacali widmet sich nun in ihrer Dissertation auf dem breiteren Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklungen verschiedenen Europaentwürfen in der rumänischen Literatur nach 1989. Sie schreibt über ihre Vorgehensweise:

Unter Einbezug ausgewählter theoretischer Ansätze aus dem Bereich der Kultur- und Literaturwissenschaften und der Soziologie geht die Arbeit der Frage nach, wie Literaturschaffende und Intellektuelle Europa und europäische Zugehörigkeit definieren und eigene Positionen dazu entwickeln. Analysiert werden literarische Texte, die nach 1989 von rumänischen Autorinnen und Autoren verfasst wurden (mit einigen Ausnahmen), programmatische Essays, journalistische und publizistische Texte sowie wissenschaftliche Literatur […].

Einige der Autorinnen und Autoren, die Bacali in ihre Arbeit aufgenommen hat, sind im deutschsprachigen Raum gut bekannt: etwa der bereits erwähnte Mircea Cărtărescu, und auch Herta Müller. Letztere dient Bacali gewissermaßen als Kontrastfolie, und zwar in doppelter Hinsicht: als exilierte sowie als Deutsch schreibende Autorin mit Wurzeln in Rumänien. Ähnliches gilt für Norman Manea, der ebenfalls bereits zu kommunistischen Zeiten ins (amerikanische) Exil ging, wobei er am Rumänischen als Schreibsprache festhielt. Bacali widmet sich aber auch dem Literaturwissenschaftler Adrian Marino: Er plädierte in den 1990er Jahren entschieden für eine „Rückkehr“ der rumänischen Literatur nach Europa, so dass man ihn als kulturellen „Euroturbo“ bezeichnen könnte. Zu den von Bacali besprochenen Schriftstellern mit „positiven“ Europaentwürfen gehören außerdem Dumitru Ţepeneag mit seinem Roman Hotel Europa, der Dramatiker Matei Vişniec und der bei uns (noch) gänzlich unbekannte Ion D. Sîrbu. Bacali nimmt darüber hinaus europakritische Positionen in den Blick, die sich ihr zufolge beispielsweise im Werk des Schriftstellers, Philosophen und Kulturfunktionärs Horia-Roman Patapievici oder der moldauischen Dramatikerin Nicoleta Esinencu finden lassen. Von Esinencu stammt ein ins Deutsche übersetztes Stück, dessen Titel für sich spricht: Fuck you, Eu.Ro.Pa!

Diese wenigen ersten Informationen dürften bereits ein methodologisches Hauptproblem von Bacalis Arbeit durchscheinen lassen: Ihr Vorhaben ist ein breites, die Auswahl der Textsorten und -gattungen weit gefasst. Dazu kommt, dass die Verfasserin recht viele unterschiedliche theoretische Ansätze bzw. Rahmen einbezieht: postcolonial studies, spatial turn, Weltliteratur u.a. Sie nennt dieses Vorgehen „multidimensional“. Dabei läuft Bacali allerdings Gefahr, dass ihre konkreten Analysen der einzelnen Texte bisweilen eklektisch ausfallen. Hinzu tritt ein weiteres methodologisches Problem: Die Diskussion der literarischen (publizistischen, essayistischen…) Werke konzentriert sich wiederholt auf eine längere Wiedergabe der Inhalte. Gleichzeitig wird die Sekundärliteratur oft sehr detailliert referiert. Dies hat zur Folge, dass die Eigenleistung der Verfasserin mitunter nur noch wenig fassbar ist.

Zu den methodologischen gesellen sich leider einige handwerkliche Unzulänglichkeiten: Die Zitierweise wird nicht einheitlich gehandhabt – etwa im Hinblick auf das Format der Werktitel oder der Fußnoten. Recht oft fehlen diakritische Zeichen in rumänischen Textstellen. Im Besonderen finden sich in der Arbeit zahlreiche Wiederholungen von Zitaten und Aussagen. Auch sachliche Fehler sind zu bemängeln: Die Republik Moldau liegt nicht zwischen Rumänien und der Russischen Föderation, sondern zwischen Rumänien und der Ukraine.

Man muss Bacalis Dissertation aber richtig aufnehmen: Das Buch ist als eine erste Auslegeordnung zu lesen, nicht aber als eine umfassende und erschöpfende Darstellung des Themas. Die Verfasserin selbst spricht von „Schlaglichtern“ auf die untersuchten Texte. Das trifft es gut: Tatsächlich wirft Bacali interessante und relevante Fragen auf. Sie diskutiert u.a. Termini wie Europäizität oder Kosmopolitismus und ist sich stets bewusst, dass „Europa“ ein beweglicher Begriff ist. Die Verfasserin weist zum Beispiel überzeugend nach, wie Herta Müllers Deutsch durch einen ganz bewusst inszenierten „fremden“ Blick auf das Rumänische beeinflusst und bereichert wird. Quasi nebenbei legt Bacali nahe, welche literarischen Werke eine Übersetzung ins Deutsche verdienen würden (nämlich der Roman Adio, Europa! von Ion D. Sîrbu oder auch weitere Theaterstücke von Matei Vişniec). Vor allem aber legt sie mit ihren Analysen eindrücklich dar, dass die rumänische Literatur der letzten Jahre deutlich mehr Interesse verdienen würde, als ihr im „übrigen“ Europa zuteil wird.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Miruna Bacali: Europaentwürfe – Positionierungen der rumänischen Literatur nach 1989.
Transcript Verlag, Bielefeld 2021.
264 Seiten, 44 EUR.
ISBN-13: 9783837656237

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