Lesen in der Corona-Krise – Teil 24

Aus der Wirklichkeit der Pandemie: Der Schriftsteller Liao Yiwu begibt sich in „Wuhan. Dokumentarroman“ auf Spurensuche

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es geht um das Virus, das sich seit mehr als zwei Jahren rund um den Globus in immer neuen Mutationen verbreitet, und es geht um Menschen in China, die sich mit ihrer Lage auseinandersetzen. Der Roman des 1958 geborenen chinesischen Schriftstellers und Dissidenten Liao Yiwu (im Chinesischen steht der Familienname zuerst) ist ein auf Fakten basiertes Dokument des Geschehens. Bereits vor der Verbreitung des Virus hatten chinesische Experten über mögliche Lecks in einem Hochsicherheitslabor in Wuhan debattiert, und noch unmittelbar nach Ausbruch des Virus im November 2019 standen 20 Tage lang Informationen darüber online zur Verfügung, bevor diese Lücke von Chinas Sicherheitsbehörden geschlossen wurde. Der Roman aus Wuhan – die Originalausgabe erschien 2020 in Taiwan unter dem Titel 當武漢病毒來臨 (engl. When the Wuhan Virus comes) bei Yunchen Wenhua – ist eine fiktionale Gegenerzählung zum offiziellen Narrativ der Staatsführung um Präsident Xi Jinping. 

Der seit 2011 im Berliner Exil lebende Liao schildert im rund 50 Seiten umfassenden Vorspiel Der Draufgänger das Schicksal von Li Zewhua, einer realen Figur, an deren Schicksal die Welt via Livestream im Internet Anteil nehmen konnte. Liao hat davon kopiert, was er sicherstellen konnte, und viele dieser Dokumente im Buch auch abgedruckt. „Kcriss“, wie er sich als Blogger nennt, ist einer der sogenannten Bürgerjournalisten, die regierungskritische Berichte im Internet veröffentlichen und dafür vom chinesischen Staat zur Rechenschaft gezogen werden. 

Liao hat das Schicksal von Kcriss als Rahmenerzählung seines Dokumentarromans umgeformt: Die Stadt Wuhan befand sich da schon seit einem Monat im Lockdown, und noch gibt es einen regen Livestream im Internet. Die lokalen Sicherheitsbehörden haben die kritischen Journalisten, die sich zu sehr für das Hochsicherheitslabor in Wuhan interessieren, längst im Auge, und so verschwindet Kcriss am 26. Februar 2020 dann spurlos:

Kcriss hat als Kind des Internetzeitalters eine Aufzeichnung seiner Verhaftung hinterlassen, sehr viele unvergessliche Eindrücke und verhältnismäßig vollständig, da er sie parallel auf YouTube hochlud, wo sie unzählige Male weitergeleitet und kopiert wurde[n?], so dass sie das Imperium nicht mehr ausradieren konnte. Das ist in der Geschichte der Verhaftungen durch diktatorische Regime in und außerhalb Chinas ziemlich einzigartig.

Der Exilschriftsteller namens Zhuang Zigui, das Alter Ego des Autors, verfolgt die Liveblogs „im zehntausend Meilen entfernten Berlin“ und schaltet sich so  – wenn auch als Randfigur im Hintergrund bleibend –  in die Handlung mit ein. Dies geschieht auf der zweiten, rein fiktionalen Ebene des Romans, wo die Geschichte des chinesischen Historikers Ai Ding erzählt wird. Ai Ding hält sich als Auslandsdozent in Berlin auf und kehrt nach den Berichten seines Freundes Zhuang Zigui nach China zurück, um sich in Wuhan selbst ein Bild der Lage seines Landes zu verschaffen. 

Am Beispiel dieses Protagonisten schildert Liao die beklemmende Odyssee eines Verfemten und Verfolgten in mehreren hermetisch abgeschotteten chinesischen Provinzen. Die Leser begleiten den zurückgekehrten Wissenschaftler vom 23. Januar 2020 an, also dem Tag der Schließung von Wuhan und dem Beginn der in Wuhan grassierenden Pandemie. Ai ist auf dem Weg zu seiner Frau und seiner kleinen Tochter, muss sich aber in einer anderen Stadt in Zwangsquarantäne begeben. Dort beginnt Ai – zunächst aus Langeweile – sich mit der Herkunft des Virus und der Situation in seinem Heimatland zu beschäftigen:

Es gab regelmäßig Todesmeldungen. Die zu Hausarrest verdammten Bürger von Wuhan wetteiferten darin, selbstgedrehte Videos […] hochzuladen, denn bei dem Wüten der Epidemie musste man keine Sorge haben, dass Polizei vor der Tür stünde und Verwarnungen aussprechen oder jemanden verhaften würde. Nichtsdestotrotz war die Internetpolizei ständig dabei, Posts zu löschen, zu verwarnen, zu bannen und das endlose Katz- und Mausspiel von Löschen und Posten, Posten und Löschen aufzuführen.

Und so beginnt sein Martyrium: Er durchlebt das Elend und die Repressionen der Null-Covid-Politik eines totalitären Regimes: Dörfer und die großen Städte sind abgeriegelt, Millionen Menschen werden im Stich gelassen. Wasser, Lebensmittel, medizinische Versorgung fehlen, viele Betroffene hungern. Ai durchquert eine ihm fremd gewordene Welt mit Regeln, die sich verselbstständigt haben. Die Regierung setzt auf Propaganda und Slogans:

Corona, ist doch nichts dabei, gehorcht nur alle der Partei!
Ohne Mundschutz aus dem Haus, ist kein Mensch, ist eine Laus!
Zu Neujahr auf ’nen Sprung herein, das ist ein Feind, lasst keinen Feind herein!

Nach seiner zweiwöchigen Zwangsquarantäne kann Ai endlich die Heimreise nach Wuhan antreten, doch nach seiner Rückkehr ist seine Frau bereits gestorben. Mit seiner Tochter erlebt er einen letzten Augenblick des Glücks, bevor er von den Sicherheitsbehörden verhaftet wird. 

Und so wurde der Wirrkopf Ai Ding wieder mitgenommen, dieses Mal ging es jedoch nicht in eine Seuchenquarantäne, dieses Mal wurde er wegen des „Verdachts auf Verbreitung von Gerüchten“ „in Hausarrest gesteckt“, das heißt, er verschwand „spurlos“ – das sind gesetzliche Bestimmungen des Staatsterrorismus, wie sie weltweit einzigartig sind […].

Liao kehrt am Ende seines Romans zum Dokumentarischen zurück: Er erinnert in einem kurzen Anhang an das Schicksal von Zhang Wenfang, die Verfasserin einer Wuhan-Elegie. Wegen dieses Textes wurde die 1980 geborene Journalistin „wegen des Verdachts des ungehörigen Betragens“ im April 2020 verhaftet und zu einer längeren Gefängnisstrafe verurteilt. Ihr Schicksal und das der anderen realen Bürgerjournalisten, die im Roman vorkommen, bilden den Rahmen von Liaos Dokumentarroman. Die Übergänge von realen Personen und den Kunstfiguren des Romans sind fließend, des Weiteren hat der Autor viele dieser Übergangszonen durch eigene lyrische Texte und Rückgriffe auf die klassische chinesische Literatur und Philosophie ausgeweitet; so erhält die Leserschaft neben den auch in westlichen Medien bekannt gewordenen Tatsachen aus der chinesischen Wirklichkeit einen vertieften Einblick in die Vielschichtigkeit der dortigen Kultur. Die im Anhang beigefügten Erläuterungen des Sinologen Peter Hoffmann, der den Roman zusammen mit der Mainzer Wissenschaftlerin Brigitte Höhenrieder übersetzt hat, tragen zum Verständnis der von Liao zitierten, hier jedoch wahrscheinlich einem breiteren Publikum unbekannten chinesischen Literatur wesentlich bei.

„Wenn man sich für die Wahrheit interessiert und sich unbeirrt auf die Suche macht, wird man zum gefährlichsten Feind der kommunistischen Diktatur“, das schreibt Liao am Ende seiner Bestandsaufnahme. Die Sprache des Romans und die vielen Namen mögen für westliche Leserinnen und Leser zunächst ungewohnt klingen, die Lektüre hinterlässt aber eine starke Wirkung, weil Fakten und Fiktion elegant und einleuchtend miteinander verwoben werden. Den besonderen Wert dieses Romans macht zweifellos die Dokumentation der Internet-Zeugnisse aus, die längst der chinesischen Zensur zum Opfer gefallen sind. Als Erkenntnis setzt sich am Ende durch, dass Menschenleben in Diktaturen wenig wert sind, wenn es um den bloßen Machterhalt geht. Denn diese Erfahrung machen die Menschen in China, wenn sie sich auf die Suche nach der Wahrheit begeben, genau wie chinesische Autorinnen und Autoren, obwohl sie wissen, dass sie jederzeit verhaftet, gefoltert oder in Umerziehungslager gesteckt werden können und vielleicht nie wieder auftauchen. 

Als Dichter und Schriftsteller, der seit 10 Jahren im Exil lebt, hoffe ich, dass meine westlichen Leser begreifen: Wenn man die Suche nach Wahrheit und Wissenschaft aufgibt, wenn die Globalisierung ausschließlich aus Profitstreben besteht, dann ist die Prophezeiung oder Warnung Nietzsches Realität geworden: ‚Gott ist tot!!!‘

Der Regimegegner Liao war selbst ein Opfer der Repression und gilt als einer der wichtigsten chinesischen Autoren, spätestens seitdem er für sein Gedicht Massaker, in dem er das Blutbad auf dem Platz des Himmlischen Friedens anprangerte, für vier Jahre inhaftiert wurde und selbst Misshandlungen erlitt. Nach seiner Flucht aus China lebt er in Deutschland und verkörpert den Widerstand aus dem Gedächtnis heraus. Schon sein Gefängnistagebuch Für ein Lied und hundert Lieder, das 2000 in Hongkong und 2011 in deutscher Übersetzung im Frankfurter S. Fischer Verlag erscheinen konnte, war ein „Balanceakt entlang der Schmerzgrenze“, so die Literaturkritikerin Felicitas von Lovenberg in ihrer Laudatio bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Liao im Jahr 2012. Seither gilt der Schriftsteller als eine bedeutende Stimme der Verfolgten seines Heimatlandes – auf den hiesigen Bestsellerlisten ist sein Werk noch nicht verzeichnet, das könnte sich mit diesem neuen Roman aber ändern.

 

Hinweis: Alle bisher erschienenen Teile unserer Reihe „Lesen in der Corona-Krise“ finden Sie hier.

Titelbild

Liao Yiwu: Wuhan. Dokumentarroman.
Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann und Brigitte Höhenrieder.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2022.
480 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783103971057

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