Spiegel und Kritik einer verkehrten Welt

Isabelle Stauffer, Corinna Dziudzia und Sebastian Tatzel publizieren den Sammelband „Utopien und Dystopien“

Von Werner JungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Werner Jung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieses schmale Bändchen versammelt acht Beiträge, die im Rahmen einer Ringvorlesung aus dem Wintersemester 2019/20 an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt vorgetragen worden sind. Dabei erstreckt sich das Spektrum der Beiträge vom Computerspiel (L. Schmeink) über gebaute Utopien zwischen Kaiserreich und Republik (G. Cepl-Kaufmann), verschiedene didaktische Konzeptionen (M. Kalbermatten, F. Kröber), agrarökonomische Reflexionen (A. Hilbeck) und theologische Ansätze (M. Kirschner) bis zu literarhistorischen und filmwissenschaftlichen Vorträgen (R. Nate, B. Grimm).

In einem einleitenden, das Konzept der Vortragsreihe erläuternden Kapitel der beiden Herausgeberinnen Stauffer und Dziudzia wird vor allem auf die Aktualität der Thematik verwiesen, denn Utopien ebenso wie deren Kehrseite, die Dystopie, haben alle ihren ‚Fahrplan‘ (wie man mit Ernst Bloch, der bemerkenswerterweise in keinem der Beiträge eine größere Rolle spielt, sagen könnte): Sie sind nämlich einzig vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Entstehungszeit begreifbar und „reflektieren“, wie die Herausgeberinnen zu Recht betonen, „die Sorgen und Hoffnungen ihrer Zeit.“ Im Blick auf unsere aktuelle Gegenwart bedeutet das noch zugleich, worin den Herausgeberinnen zuzustimmen ist, dass es sich bei Utopien-Dystopien um so etwas wie Kippfiguren handelt, die jeweils in ihr Gegenteil umschlagen können: „Gegenwärtig werden dystopische Nachrichten zum Zustand der Umwelt, der Welternährung oder der technischen Entwicklung oft zum Auslöser für utopische Zukunftslösungen, während das utopische Potential von  Ideen und Erfindungen in dystopische Szenarien kippen kann.“ Immer wieder steht ein Denkbild des Literarhistorikers Wilhelm Voßkamp, der sich in einer ganzen Reihe von einschlägigen Publikationen mit der Utopie(-forschung) beschäftigt hat, im Vordergrund. Dass nämlich hinter dystopischen Vorstellungen häufig das biblische Schema von Verheißung und Erfüllung kenntlich ist, wobei heute das utopische Potential („die versprochene theologische Verheißung einer guten Hoffnung“) nahezu ausfalle, was die Herausgeberinnen unter Verweis auf eine Vielzahl literarischer wie auch filmischer Beispiele zu belegen wissen.

Überhaupt spielt das biblische Bild der Apokalypse in mehreren Beiträgen eine erhebliche Rolle; insbesondere im Vortrag des  Theologen Kirschner, der eine genaue Begriffsbestimmung von Utopie und Dystopie in Korrelation zur Eschatologie vornimmt und diese schließlich so versteht, dass  – im Rückgang auf eine Interpretation der Lazarus-Erzählung der Bibel (Lk 16, 19-31) – Eschatologie „die kritische Funktion utopischen  Denkens als Spiegel und Kritik einer verkehrten Welt in sich auf(nimmt), (…) diese aber nicht als utopisches Gegenprogramm (formuliert), das selbst wieder mit totalitären Ansprüchen verbunden werden kann. Vielmehr ermöglichen die eschatologischen Aussagen eine Relativierung der herrschenden Ordnung und eine Umkehrung der Perspektive auf das Hier und Jetzt (…).“

Was man dem Bändchen, das einen gelungenen kursorischen Überblick über die aktuelle Utopie-Dystopie-Debatten auf verschiedensten Feldern anbietet, vielleicht vorwerfen könnte, ist die Vernachlässigung des insbesondere mit der Dystopie-Problematik in aktuellen Diskussionen stark verhandelten Aspekts von der ubiquitär gewordenen Überwachung. Doch liefert dazu der 2019 ebenfalls im Aisthesis-Verlag erschienene Sammelband Orwells Enkel. Überwachungsnarrative (Hg. Werner Jung, Liane Schüller) einen kompetenten Beitrag zum Weiterlesen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Isabelle Stauffer / Corinna Dziudzia (Hg.) / Sebastian Tatzel: Utopien und Dystopien. Historische Wurzeln und Gegenwart von Paradies und Katastrophe.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2021.
160 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783849815424

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