Ein universelles Erklärungsmodell für visuelle Kommunikation

Die Geschichte der Erkenntnistheorie als Geschichte der Semiotik verständlich machen – so lautet das Vorhaben von Matthias Händler. Die Fruchtbarkeit des daraus resultierenden Modells verdeutlicht er exemplarisch an der Frage, was ein Bild sei

Von Sebastian MeißnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Meißner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es geht Matthias Händler in seiner Abhandlung um nichts weniger eines der – in seinen Worten – „schwerwiegendsten Probleme in den Geisteswissenschaften“. Denn egal ob Philosophie, Anthropologie, Kunstgeschichte oder Medien- und Kommunikationswissenschaft: Die Antworten vieler Disziplinen auf die Frage, was ein Bild sei, gehen meist von zwei falschen Ansichten aus, die laut Händler immer wieder zu „folgenschweren Irrtümern der abendländischen Wissenschaftsgeschichte“ geführt haben:1. Alle Zeichen müssen immer Symbole sein (Logozentrismus) und 2. dass diese eine Bezugnahme (d.h. eine intentionale Ausrichtung) auf erfahrungsunabhängige Dinge und damit ein wahres Wissen über diese ermöglichen (erkenntnistheoretischer Realismus).  

Die Kombination zweier Richtungen

In seiner hier in überarbeiteter und erweiterter Form vorliegenden Dissertation, die er im Institut für Medienwissenschaft bzw. am Lehrstuhl für Medieninnovation und Medienwandel der Philosophischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen verfasste, wählt Händler für die Beantwortung der Frage nach dem Bild die Kernthese, „dass sich Zeichen und Wissen qua kognitiver Beschränkung zunächst einmal auf den Bereich der momentanen Erfahrung beziehen und daher vor allem selbstreferentiell sind.“ Zur Unterstützung seiner These entwickelt Händler ein universelles Erklärungsmodell durch die Kombination zweier Richtungen: 1. dem Pragmatizismus des Zeichentheoretikers Charles Sanders Peirce (1839–1914) und dem Radikalen Konstruktivismus des Kognitions- und Kommunikationswissenschaftler Ernst von Glasersfeld (1917–2010). So strebt er den Entwurf eines „semiotischen Konstruktivismus“ an, der die Geschichte der Erkenntnistheorie als die Geschichte der Semiotik lesen lässt.

Zurückweisung der logozentrischen These

Dass eine Definition von „Bild“ und ihr Geltungsanspruch immer vom erkenntnistheoretischen Verständnis abhängen, mit dem ein Begriff zu bestimmen versucht wird, zeigt Händler in zehn Kapiteln (plus einer abschließenden Zusammenfassung samt Ausblick). Dies geschehe immer zwischen den Polen Letztbegründung (erfahrungsunabhängig, rationalistisch) und Beliebigkeit (erfahrungsabhängig, empirisch). Die zehn Kapitel bauen inhaltlich aufeinander auf und spitzen die Argumentation immer weiter zu. Zu Beginn seiner Studie geht es um die Erkenntnisfrage und die Entstehung des Konstruktivismus als Gegenpol zum Realismus, wobei Händler das Verhältnis von Bewusstsein, Intentionalität und Bezugnahme ausführlich aufzeigt und zur leitenden These gelangt, dass Zeichen grundlegend über „Selbstreferenz“ und „Gebrauch“ definiert werden sollten. Es folgen Ausführungen dazu, warum der Anspruch auf eine objektiv wahre Erkenntnis unhaltbar ist und welche Konsequenzen dies für die Bildtheorie hat. Hier leitet Händler die Zurückweisung der logozentrischen These ab, dass „es sich bei jedem Zeichen um ein analog zum Wort funktionierendes Symbol handeln soll, da es einem semiotischen Reduktionismus gleichkommt.“ Auch die phänomenologische Bildtheorie, „dass es sich beim Bild nicht notwendigerweise um ein Zeichen handeln muss“, wird als unplausibel entlarvt. Mit Rückgriff auf Peirce‘ Semiotik verdeutlicht Händler anschließend, dass ein Bild nicht nur eine, sondern stets mehrere Zeichenrelationen aufweist und legt dar, wie sich das Verstehen, eines Bildes durch das Zusammenspiel und Ineinandergreifen von Abduktion, Deduktion und Induktion konstituiert.

Sein eigener Vorschlag für ein Verständnis von visueller Kommunikation findet sich schließlich im letzten Kapitel. Hier wird klar, was es heißt, ein Bild zur Verständigung innerhalb einer sozialen Interaktion zu verwenden. Wird die Präsentation eines Medienangebots (also z.B. eines Bildes) als soziale Handlung gedeutet, beginnt ein (visueller) Kommunikationsprozess. Diese „Orientierungsintention“, also die Annahme, dass mit dem Bild etwas gezeigt werden soll, kann nach Händler weiter spezifiziert werden (was er jedoch nur andeutet und nicht vertiefend konkretisiert). Am Ende des Kapitels folgt die Möglichkeit einer „figurativen Abstraktion“, die Händler als den entscheidenden Vorteil visueller Kommunikation gegenüber der Sprache bezeichnet.

Stichhaltige Argumentation

Händler verfolgt mit dieser Studie ein ambitioniertes Vorhaben und geht einen langen gedanklichen Weg. Durch die schrittweise Abarbeitung gängiger Positionen und ihrer Schwächen schafft er es, eine kritische Betrachtung von analytischen, phänomenologischen und medienwissenschaftlichen Konzeptionen von Bildpragmatik stichhaltig zu formulieren und ihnen eine „eklatanten Reflexionsmangel im Hinblick auf ihre soziologischen bzw. kommunikationstheoretischen Grundlagen“ nachzuweisen. Sprachlich akkurat und stets eng am roten Faden argumentiert, kann Händler ihnen ein wirksames Modell des Semiotischen Konstruktivismus entgegensetzen, das so auch auf Texte im weitesten Sinne anwendbar ist. Für seine Studie wurde Händler 2021 mit dem Theoriepreis der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) ausgezeichnet.

Titelbild

Matthias Händler: Zeichen – Erkenntnis – Kommunikation. Entwurf eines semiotischen Konstruktivismus exemplifiziert anhand der Frage »Was ist ein Bild?«.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2020.
307 Seiten, 44,80 EUR.
ISBN-13: 9783826069611

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