Tiere sind die besseren – oder zumindest andere – Menschen
Michael Schilling beschreibt das „Sprechen und Erzählen in deutscher und lateinischer Tierdichtung vom 11. bis 17. Jahrhundert“
Von Jörg Füllgrabe
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAngesichts der, zumindest vermeintlichen, Offenheit in Gesellschaft und gesellschaftlichem Diskurs, deren banalste und zugleich bösartigste Form Hasskommentare im Netz sind, ist in unserer modernen Welt vieles dermaßen anders, dass Beweggründe aus früheren Zeiten kaum bis gar nicht nachvollziehbar erscheinen mögen. Das mag ein Aspekt sein, der der einleitenden Feststellung von Michael Schillings Band Sprechen und Erzählen in deutscher und lateinischer Tierdichtung vom 11. bis 17. Jahrhundert zugrunde liegt: „Tierdichtung spielt in der modernen Literatur kaum noch eine Rolle. Während das 19. Jahrhundert mit einer Fülle einschlägiger Werke aufwarten kann […], muss man für das 20. Jahrhundert schon nachdenken, bevor einem außer George Orwells Farm der Tiere noch einige weitere Titel einfallen.“ Eine der Ursachen mag in der eingangs eingeführten gesellschaftlichen Offenheit liegen: Wenn alles (auch das Bösartige und Überflüssige) frei herausposaunt werden kann, braucht es keine tierischen Exponenten, um Kritik oder politischen Kommentar in vermeintlich harmloser Form anzubringen. Aber natürlich ist dies nur ein Aspekt, daneben spielt sicherlich auch die durchgängige Visualisierung eine Rolle – wenn alles (pseudo-)dokumentarisch belegt und zu sehen ist, hat die Fantasie nur noch wenig Raum.
Michael Schillings durch verschiedene Illustrationen aufgelockertes Buch beinhaltet die Auseinandersetzung mit den wichtigsten Texten der volkssprachlichen (also deutschen) und lateinischen Tierdichtung des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, darunter die Echasis captivi, den Ysengrimus, den Reinhart Fuchs, den Reynke de vos, Rollenhagens Froschmeuseler, Fischarts Flöh Hatz sowie Spangenbergs Ganskönig. Auffällig dabei, so Schilling, sei eine Erzählhaltung, die durch Nähe und Verwandtschaft zwischen den Tieren und dem Erzähler erkennbar sei und durch die bisweilen beide Seiten geradezu miteinander verschmelzen.
Nach einer knappen Einleitung wird zunächst – als grundlegender und für die Weiterführung der Argumentation unabdingbarer Text – Heinrich Steinhöwels Ende des 15. Jahrhunderts verfasster Esopus in den Blick genommen. Mit dieser Sammlung und Edition der Fabeln Aesops, die in den folgenden Jahren in die meisten europäischen Sprachen und schließlich sogar in Ostasien, das heißt China und Japan, in Übersetzung Verbreitung fand, sieht Schilling einerseits eine Art Kulmination mittelalterlicher Tierdichtungstradition, andererseits aber auch das Anheben einer neuen, frühneuzeitlichen Linie eben von Tierdichtungen miteinander verbunden. Wesentliches Element von Steinhöwels Text ist freilich die Vita Esopi, in der die Biografie des Begründers der Fabeldichtung – und hier nicht zuletzt auch die praktische Anwendbarkeit bestimmter Kenntnisse – dargelegt ist, die sich unter anderem eben durch die Kenntnis anderer Sprachen, konkret der Kommunikationsfähigkeiten der Tiere, auszeichnet. So gelangt Aesop über eben diese Kenntnisse und Fähigkeiten an einen Goldschatz. Das ist pfiffig, aber wesentlich geläufiger sind die bereits im antiken Original erkennbaren Projektionen menschlicher Schwächen und Stärken beziehungsweise menschlicher Charakterzüge auf Tiere. Eitelkeit, Anmaßung und Dummheit werden in tierischer Gestalt verdeutlicht, und eine der ewigen Weisheiten liegt sicherlich darin, dass auch der Schlaue irgendwann auf den noch Schlaueren trifft. Mit einem Rückgriff auf Texte wie Strickers Der Kater als Freier, aber auch Der Wolf und das Weib oder Der Esel im Löwenfell werden Sprech- und Erzählsituationen illustriert, in denen dem durchaus Adäquaten eben auch das Unangemessene respektive Entlarvende dieser tierischen Kommunikationssituationen erkennbar gemacht wird.
Unter dem Komplex „Die Figur des Erzählers“ werden Echasis captivi, Ysengrimus, Reinhart Fuchs sowie Reynke de vos herangezogen, um die unterschiedlichen Erzähl-, aber eben auch Erzählersituationen zu beleuchten. Dabei wird deutlich gemacht, welche internen wie auch externen Parameter für das Funktionieren der entsprechenden Konstellationen und Handlungsstränge notwendig sind. Dass hierbei antagonistische Aspekte eine nicht unbeträchtliche Rolle spielen mögen, wird nach Schilling immer wieder erkennbar, so identifiziert er etwa bei Reinhard Fuchs den Erzähler als Fuchs, während in der niederdeutschen Variante, Reynke de vos, der Fuchs zum Erzähler wird. Hier wird eine enge Verbindung zwischen Tieren und Menschen erkennbar gemacht, die – als Beleg wird der Güldene Hund des Wolfgang Caspar Printz herangezogen – mitunter changieren und damit eine Eindeutigkeit zu meiden suchen. In diesem Fall, so der Autor weiter, ist es Printz wohl nicht nur um die enge Tier-Mensch-Verbindung zu tun gewesen, sondern nicht zuletzt auch darum, mit diesen Wechseln über die Uneindeutigkeit und Unzuverlässigkeit der erzählenden Person Unzuverlässigkeit – und durchaus auch Ungerechtigkeit – des Lebens generell zu illustrieren.
Steht in diesem Komplex die durchgängige Nähe zwischen der Lebenswelt der (erzählten) Tiere und der Menschen im Fokus, werden im jeweiligen Textaufbau höchst divergierende Aspekte als „Architekturen des Erzählens“ nachgewiesen. Hierbei definiert Schilling vier grundlegende „Architekturmodelle“: die „Stufenpyramide“, den „Zeitstrahl“, den „Blasenbaum“ sowie die „Zwiebel“. Diese werden jeweils beschrieben und hinsichtlich ihrer Tragfähigkeit für den Aufbau der jeweils herangezogenen Dichtung dargestellt beziehungsweise durch die entsprechende Modellskizze visualisiert.
Auf diesen Parametern aufbauend argumentiert der Autor auch im Weiteren, wenn die „Modalitäten des Erzählens“ in den Blick genommen werden. Zunächst geht Michael Schilling hier dem Aspekt der „typologischen Kompilation“ in der Echasis captivi nach, in der er ein wesentliches Momentum im Zuge der Christianisierung der antik-paganen Ursprungsüberlieferungen zu definieren sucht. Hier wird deutlich gemacht, dass im übertragenen Sinn das Schiff nicht unbedingt gewechselt werden muss, wenn andere Passagiere reisen, denn die in der antiken Tradition festgelegten Konstellationen von Protagonisten und Spannungsbögen tragen eben durchaus auch in christlichem Kontext das Konzept einer ‚verdeutlichenden Verschleierung‘. Dass im Kontext der Tierdichtung auch das Moment der Parodie zum Tragen kommt, verdeutlicht Schilling anhand etwa entsprechender Adaptionen aus heldenepischen Überlieferungen, aber auch dann – wenngleich hier der Überbegriff ‚Parodie‘ nicht unbedingt zutrifft –, wenn Christus bei Erasmus von Rotterdam konstatiert, dass im Gegensatz zum Menschen selbst wilde Tiere ihrem Schöpfer Lob, Preis und Dank abstatten. Hier lässt sich erkennen, dass den entsprechenden Texten auch ein lehrhafter Aspekt innewohnt, der im Übrigen an anderer Stelle des Buches noch einmal aufgegriffen wird.
Das „inverse Erzählen“ in bestimmten Tierdichtungen ist eine Umkehrung des Gewohnten und kann sich (neben Inversem in rein menschlichem Raum, also etwa der Umkehrung von Geschlechterrollen und -verhältnissen) auf das Verhältnis Mensch-Tier beziehen, wenn beispielsweise das Schaf den Schäfer schert. Es kann aber auch rein tierisch sein, wenn Prädatoren von ihren Beutetieren angegangen werden. Prominent – und bis in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges immer wieder aufgegriffen – war die Darstellung des Krieges der Mäuse gegen die Katzen. Michael Schilling verweist hier vornehmlich auf eine Dichtung Sigmunds von Birken, der in seiner, sich schließlich als Traumbeschreibung erweisenden, Darstellung nicht nur durchaus Zeitgenössisches (eben Aspekte des Grausamen, aber auch Abstrusen des Dreißigjährigen Krieges) darlegt oder mit der Umkehrung der tatsächlichen Verhältnisse die traditionell implizierte Frage nach der Rechtfertigung gesellschaftlicher Positionierungen aufwirft, sondern auch im Sinne einer veränderten Literaturauffassung weitergeht, denn „die […] betriebene Emanzipation der Literatur von poetologischen Vorgaben und Ansprüchen moralischer Belehrung vollzieht einen bemerkenswerten Schritt auf dem Weg zur literarischen Autonomie“.
Literarische Autonomie ist eines der Ziele, das der Konzeption einer Dichtung zugrunde liegen mag, daneben existieren jedoch noch andere, die unter dem Titel „Ziele des Erzählens“ subsumiert sind. Dass hierbei der Aspekt der Freude am Anfang steht, mag einer Fortsetzung der Argumentation ausgangs des vorigen Abschnitts geschuldet sein; hier wird – wie grundsätzlich in der vorliegenden Publikation – der Argumentationsgang durch Beispieltexte aus den herangezogenen Tierdichtungen untermauert. Dies gilt auch für die anderen Erzählmotivationen: Belehrung, Kritik, angewandten Skeptizismus und auch die Metapoetik, die am Beispiel verschiedener Adaptionen des Wettstreites zwischen Kuckuck und Nachtigall durchdekliniert wird.
Abgeschlossen wird das Buch schließlich mit einem Anhang, der die Querela Anseris des Michael Toxites und die drei Floh-Epitaphien von Friedrich Taubmann, Theodor Silber sowie Salomon Frenzel wiedergibt. Diese knappen Texte werden im Original mit neuhochdeutscher Übersetzung geboten und runden das Lesevergnügen ab beziehungsweise verdichten es durch diese kurzen, aber vollständigen Beispiele aus dem Bereich der Tierdichtung. Abkürzungs- wie Abbildungsverzeichnis, Bibliografie sowie ein sorgfältig gestalteter Registerteil runden das Buch ab. Dennoch ist zu konstatieren, dass ein Fazit fehlt. Sicherlich ist im Grunde alles gesagt respektive geschrieben worden, sicherlich auch steht manches bereits in der Einleitung; und dennoch wären zumindest einige zusammenfassende Zeilen der Sache dienlicher gewesen.
Sprechen und Erzählen in deutscher und lateinischer Tierdichtung ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. In Zeiten, die von ‚Hyper-Etiketting‘ (der gewöhnungsbedürftige Neologismus möge verziehen werden) und Verpackungswahn nicht zuletzt auch von Büchern geprägt sind, mag ein Attribut wie ‚solide‘ nachgerade beleidigend erscheinen. Was jedoch nichts daran ändert, dass die Tierdichtung – reisefreundlich flexibel gebunden – eben entsprechend solide daherkommt und sich bei aller wissenschaftlichen Ernsthaftigkeit doch auch kurzweilig präsentiert, die entsprechenden Darlegungen und Argumentationsgänge laufen sich also nicht in der Ödnis fortwährender und bestärkend intendierter Redundanz zu Tode. Michael Schilling weckt somit das Interesse an dieser eigenartigen literarischen Welt, regt zum Wieder- oder Neu-Lesen von Fabeln an – und aktiviert vielleicht sogar das ökologische Gewissen. Unter dem Eindruck der Lektüre dieses Buches erschien es dem Rezensenten dann auch nicht weiter verwunderlich, erst vor kurzem einen Hasen zu erblicken, der einen verwirrten und verängstigten Fuchs durch die Nacht jagte.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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