Kubakrise und Klavierlehrerin
Ian McEwans Roman „Lektionen“ mit Exkursen in die Weltgeschichte
Von Peter Mohr
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Persönlichste, der Umfangreichste, der Beste – der neue Roman von Ian McEwan wurde schon vor dem Erscheinen der deutschen Übersetzung mit reichlich Vorschusslorbeeren überschüttet. Um es vorwegzunehmen – an die Meisterwerke des inzwischen 74-jährigen britischen Autors reichen die Lektionen nicht heran. „Mich interessiert das menschliche Innenleben, das nicht von oberflächlicher Logik angetrieben ist“, hat Ian McEwan einmal selbst sein dichterisches Credo beschrieben. Die Abgründigkeit, die oftmals tiefen existenziellen Krisen und die ganz scharf konturierten Menschenbilder wie in seinen besten Romanen Liebeswahn (1998), Abbitte (2001), Saturday (2005) und Am Strand (2007) sucht man hier vergebens. Der Booker-Preisträger des Jahres 1999, der ein Faible für Figuren in psychischen Grenzbereichen pflegt und uns wiederholt mit schockierenden Geschichten konfrontiert hat, holt diesmal erzählerisch ganz weit aus, widmet sich der Biografie eines 1948 (wie der Autor) geborenen „Durchschnittsbürgers“ und reichert dessen Lebensweg mit den Großereignissen aus der Weltgeschichte an. Dabei hat McEwan den Leser mit seinem Romaneinstieg zunächst richtig in den Bann gezogen: „Dies war die Erinnerung eines Schlaflosen, kein Traum. Wieder die Klavierstunde, der orangerot geflieste Boden.“ Tatsächlich werden die Klavierstunden für die Hauptfigur Roland Baines zur Obsession. Er wird als Heranwachsender von seiner Klavierlehrerin Miriam Cornell sexuell missbraucht. Eine Zäsur in seinem Leben, denn er bricht später die Ausbildung im Internat ab. Das ist von McEwan drastisch, aber keineswegs voyeuristisch geschildert. Man fragt sich dennoch: Was hat die Klavierlehrerin Miriam mit der Kuba-Krise zu tun? Soll die Simultanität dieser Ereignisse, das Bezug nehmen aufeinander, das Verzahnen von privater Tragödie und einschneidenden Ereignissen der Weltgeschichte Schmerz relativieren? Oder vielleicht (andersherum gedacht!) Empathie steigern?
Diese Konstruktion zieht sich wie ein roter Faden durch die Lektionen – von Kuba-Krise, über Vietnam, von Tschernobyl bis Mauerfall, von Digitalisierung bis Covid. Man fühlt sich auf diese Weise bisweilen abgelenkt von Roland Baines‘ Schicksal. Der Protagonist wollte klassischer Pianist werden, schlug sich dann aber nach Abbruch seiner Ausbildung mehr schlecht als recht als Werbetexter durchs Leben und „klimperte“ hin und wieder in Bars. Auffallend ist Baines‘ Teilnahmslosigkeit, er wirkt auf eine seltsame Weise inaktiv, er avanciert unter McEwans Federführung zu einer Art „Meister des Erduldens“. Auch seiner Ehe mit Alina ist nur ein kurzes Glück beschieden. Sie verlässt Baines und den vier Monate alten Sohn, während die gesamte Welt von der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl in Angst und Schrecken versetzt wurde. „Ich habe das falsche Leben gelebt“, resümiert Alina, die später als Schriftstellerin respektable Erfolge feiert. Hat das Unglück in Tschernobyl etwa Einfluss auf die Trennung gehabt? Der alleinerziehende Vater, den es später mit Stolz erfüllt, dass sein Sohn es zu einem renommierten Klimaforscher geschafft hat, sucht Gründe für sein Scheitern und gräbt tief in der eigenen Vergangenheit. Es geht dabei um so große Themen wie Schuld und Moral. Baines hinterfragt sein Verhältnis zur einstigen Klavierlehrerin und schlägt geradezu versöhnliche Töne im Rückblick auf seine Ehe an:
Keine Bücher, keine Songs, keine Gemälde, nichts Erfundenes, das ihn überdauern würde. Würde er seine Familie gegen ihren Meter Bücher austauschen? Nein: Er schüttelte den Kopf.
Baines klagt im Rückblick nicht an, er hat sein Leben als eine Art Schicksal akzeptiert und sich mit den Irrungen und Wirrungen in seiner Vita arrangiert. „Die Meinungsfreiheit war auf dem Rückzug und die digitalen öffentlichen Räume hallten wider von den Schreien der wahnsinnigen Massen.“ Roland paraphrasiert am Ende all die gesellschaftskritischen Statements, die wir aus Aufsätzen und Interviews von Ian McEwan kennen. Passt das überhaupt zu Baines? Eine Figur, die alles über sich ergehen ließ, die ihrem eigenen Leben eher zuschaute als es selbst zu gestalten.
Man wird als Leser weder mit der Hauptfigur Baines noch mit den weltpolitischen Exkursen in den Lektionen so richtig warm. An einer Stelle des Romans heißt es: „So geht Ordnung in Chaos über und niemals umgekehrt.“ Weniger (Weltgeschichte) wäre hier ganz gewiss mehr gewesen.
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