Hommage an einen großen Dichter

Zum 50. Todestag von Günter Eich gibt Michael Braun einen emotional bewegenden und intellektuell fordernden Sammelband heraus

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ist Günter Eich bereits ein vergessener Dichter? Die Antwort muss wohl lauten: ja und nein. Zum literaturgeschichtlichen Grundwissen gehört, dass Eich zu den frühesten Mitgliedern der Gruppe 47 zählt und dass er mit Ilse Aichinger, einer ebenfalls bedeutenden Dichterin, verheiratet war. Beide gewannen kurz nacheinander den Preis der Gruppe 47, Eich im Jahr 1950 für Gedichte, von denen Inventur und Latrine, weil in vielen Schullesebüchern abgedruckt, bis heute die berühmtesten sind. Sie gelten, so weiß man, als Musterbeispiele für die sogenannte Kahlschlagliteratur. Darüber hinaus hat man vielleicht gehört oder gelesen, dass Eich einer der wichtigsten, womöglich der wichtigste Hörspielautor der 1950er Jahre war und dass sein Hörspiel Träume (1951) sogar die Geburtsstunde des deutschen Hörspiels sein soll. Letzteres ist natürlich völlig unhaltbar, betrachtet man die vielfältige Hörspielproduktion der Weimarer Republik und stellt man in Rechnung, dass Günter Eich auch vor den Träumen bereits ein produktiver Hörspielautor gewesen war.

Das alles zusammengenommen ist recht wenig, was über ein ganzes Dichterleben noch allgemein bekannt ist. Zwar umfasst Eichs Werk keine Romane, die im Literaturbetrieb für gewöhnlich den Ruhm beflügeln, aber dafür ist dieses Werk in mancher Hinsicht einzigartig. Eben darauf macht der von Michael Braun herausgegebene kleine Sammelband zu Eichs 50. Todestag aufmerksam, der als Titel ein Zitat des Dichters trägt: „Was ich weiß, geht mich nichts an.“ Mit dem Band vollbringen der Herausgeber und die Beiträger/innen das Kunststück, die Leserinnen und Leser sowohl emotional zu bewegen als auch intellektuell herauszufordern. Denn die knappen Aufsätze und Interviews sind einerseits Zeugnisse persönlicher Begegnungen und Lektüreerlebnisse, andererseits Analysen ausgewählter Texte von Günter Eich, in denen gezeigt wird, wie moderne, sich selbst ernst nehmende und keineswegs an Kriterien der Marktgängigkeit orientierte Poesie funktionieren kann.

In der Nachkriegszeit hatte Eich mit den beiden Gedichtbänden Abgelegene Gehöfte (1948) und Botschaften des Regens (1955) Erfolg. Mit den Gedichtsammlungen Zu den Akten (1964), Anlässe und Steingärten (1966) und Nach Seumes Papieren (1972) irritierte er das Publikum ebenso wie mit den Sammlungen kurzer Prosatexte Maulwürfe (1968) und Ein Tibeter in meinem Büro (1970) sowie mit seinen späten Hörspielen. Jürgen Nendza spricht in seinem Beitrag von Eichs „ästhetische[r] Zäsur Mitte der 60er Jahre vor dem Hintergrund der NS-Vergangenheit“. Es sei der Auschwitz-Prozess gewesen, der Eich dazu gebracht habe, sein Schreiben radikal zu verändern: von einer traditionellen Naturdichtung hin zu einer verrätselten, hoch chiffrierten, oft abstrakten Dichtung. Allerdings lässt sich Eichs Selbstbefragung hinsichtlich seiner Mitverantwortung für die NS-Verbrechen nicht an Quellen belegen. Nendza muss sich darauf beschränken, Wahrscheinlichkeiten und Annahmen zu benennen. Dokumentiert sind dagegen Eichs Autofahrten zu süddeutschen KZs und Außenlagern schon Anfang der 1950er Jahre.

Dokumentiert ist auch, dass Eich – erfolglos – im Mai 1933 einen Aufnahmeantrag in die NSDAP gestellt hat und nach dem Krieg bekannte, er habe im Nationalsozialismus versucht zu überleben, er sei kein Widerstandskämpfer gewesen und wolle sich auch nicht dazu stilisieren. In seinem Vorwort skizziert Michael C. Braun diesen Sachverhalt und weist zugleich auf Eichs entschieden machtkritische Position hin, die dieser nach 1945 vertreten habe. Eich radikalisierte diese Haltung hin zu einer existentiellen Verweigerung, die nicht in gesellschaftskritischem Engagement aufgeht. In einem Interview, das er 1971 kurz vor seinem Tod gab, sagte er: „Ich bin engagiert gegen das Establishment; nicht nur in der Gesellschaft, sondern in der ganzen Schöpfung.“

Eichs anarchische – vielleicht nicht im engeren Sinn politisch zu verstehende – Einstellung drückt sich in seinem Interesse an Bakunin aus, dem er einen Maulwurf gewidmet hat und über dessen Grab in Biel er seine Asche ausgestreut wissen wollte – was allerdings die Friedhofsverwaltung untersagte. Michael C. Braun machte sich auf eine „Spurensuche in Biel“. In seinem Bericht darüber verweist er auf Texte von W.G. Sebald, Wolfgang Koeppen und Helmut Heißenbüttel, die zum Ort passen, und erfreut sich schließlich an einem Blick über den Bieler See, ungefähr dort, wo die Asche tatsächlich verstreut wurde.

In weiteren, durch persönliche Affinitäten zu Eichs Werken motivierten, aber analytisch angelegten Beiträgen beschäftigen sich Michael A. Braun mit der Bildlichkeit in einigen Hörspielen Günter Eichs, Àxel Sanjosé mit Bedeutungen des Vogelmotivs in Gedichten und Hörspielen, Michael C. Braun mit Topographien, die in vielen Werken Eichs als „auratische[] Ortsnamen“ auftauchen und Nancy Hünger mit den Prosaminiaturen in den Maulwürfen.

Die Hörspiele Träume, Sabeth, Die Stunde des Huflattichs und Meine sieben jungen Freunde überschreiten allesamt den Bereich des empirisch Möglichen und verweisen, mittels „Metaphern für das Unsagbare“, auf Wirklichkeiten, die wir nicht mit unseren Sinnen, sondern nur spirituell erfahren können. Als das Gemeinsame dieser Hörspiele, die nur eine kleine Auswahl aus Eichs umfangreichem Hörspielwerk darstellen, identifiziert Braun das Fehlen von „Trost und Milde“. Immerhin, so lässt sich ergänzen, kann man diese Hörspiele als Parabeln hören und sich um eine Deutung bemühen. Selbst das gelingt aber nicht mehr, wenn man sich auf das Hörspiel Man bittet zu läuten (1964), auf die Gedichte der 1960er Jahre und die Maulwürfe einlässt.

Warum das so ist, darauf geben Sanjosé und Braun interessante Hinweise. So wandelt sich das in Eichs Gedichten häufig zu findende und das Hörspiel Sabeth bestimmende Vogelmotiv dahingehend, dass die Vögel anfangs Zeichen hinterlassen, unter anderem in Form der Grafik des Vogelzugs, die als Schrift wahrgenommen werden kann. Diese Schrift wiederum kann „entsiegelt“ und etwa im Sinne der römischen Auspizien gedeutet werden. Es besteht noch ein Bezug zu einer wie auch immer gearteten Transzendenz, an die Eich offenbar immer weniger glauben mochte. Der Bezug der Zeichenkörper auf ein Bezeichnetes verliert sich in den späteren Werken, sodass die Zeichen des Sinns entbehren und eine Denotation nicht mehr stattfindet. Das Ergebnis sind Gedichte, Hörspiele und Prosatexte, die hermetisch und unverständlich wirken.

In den Vordergrund tritt der Klang der Wörter, unter denen Ortsnamen eine herausgehobene Stellung haben. In seinem Aufsatz über „Topographien“ liest Michael C. Braun Eich-Texte als „poetische[n] Entwurf der Welt via kartographischer Lektüre“. Dem Nichtvernünftigen der Welt wird ein Spiel, die Topographierung der Welt, entgegengestellt. Bereits aus den Zwischentexten der Träume bleiben die Ortsnamen „Randersacker“ und „Taormina“ im Gedächtnis, hier könnten es noch die Bezeichnungen für die wirklichen Orte sein, was aber schon für den Titel gebenden Ort des frühen Hörspiels Geh nicht nach El Kuwehd und erst recht für „Ottobrunn“ (in Die Stunde des Huflattichs) oder „Trapezunt“ in einem der letzten Gedichte (Nach dem Ende der Biographie) gilt. Ein faszinierender Gedanke: An die Stelle der ideologischen Systeme und der Macht garantierenden Hierarchien tritt die Ordnung der Kartierung, der Atlanten.

Nancy Hünger schließlich solidarisiert sich mit den Maulwürfen, wobei sie an eine Erfahrung aus ihrer DDR-Kindheit anknüpft, die Begeisterung für Zdenĕk Millers kleinen Maulwurf „Krtek“, der sowohl als dickfelliges Spielzeug mit Latzhose in ihrem Kinderzimmer Platz fand als auch als Animationsfigur in zahlreiche Episoden, vom Fernsehen in Ost und West ausgestrahlt, seine Wühlarbeit vollbrachte. Eichs Maulwürfe, von Marcel Reich-Ranicki verachtet, werden von Hünger für ihre Sabotage der gelenkten Sprache, die ein Instrument der Herrschaft sei, gelobt. Wohl gesprochen, allerdings sei in Klammern doch gefragt, was Eich wohl von zeitgeistigen Formen wie „Gäst*innen“ oder „Porschefahrer*innen“ gehalten hätte.

Auch der Dichter Kurt Drawert machte in der DDR seine Erfahrungen mit dem subversiven Gehalt der Eichʼschen „Verweigerungstext[e]“. Seine Sympathie für derlei Texte – er nennt auch Beckett und Thomas Bernhard – demonstrierte er mit seinem ersten Lyrikband Zweite Inventur, der von der offiziellen Literaturkritik verrissen und dessen erste Auflage im Auftrag der Stasi aufgekauft wurde, so dass sie sofort vergriffen war.

„Eine Frohnatur war Eich niemals“, schreibt Michael A. Braun. Meist sieht man den alten Dichter mit zerfurchtem Gesicht und grauem Bart und traut ihm keine Fröhlichkeit zu. Zwei der Fotos in dem Band zeigen dagegen einen lächelnden Günter Eich, einmal mit seinem Sohn Clemens. Der Mensch wird uns näher gebracht in zwei Interviews, das eine mit dem Literaturwissenschaftler und Eich-Biografen Roland Berbig über den erst 2021 veröffentlichten Briefwechsel Eichs mit Rainer Brambach, deren tiefe Freundschaft die Briefe widerspiegeln, das andere mit Eichs und Aichingers Tochter Mirjam, das Einblick in das Familienleben, in die Reisen und das gesellige Leben des Dichterehepaars gibt.

Alles in allem also ein facettenreicher Band und eine bewegende Huldigung an einen Dichter, der es verdient, dass wir ihn nicht vergessen.

Titelbild

Michael Braun (Hg.): Was ich weiß, geht mich nichts an. Zu Günter Eich. Essays.
Poetenladen, Leipzig 2022.
128 Seiten , 18,80 EUR.
ISBN-13: 9783948305154

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