Einstürzende Kulissen

Albert Camus‘ dritter Roman „Der Fall“ ist in einer neuen Übersetzung erschienen

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist eine Überlegung wert, ob es nicht anzuraten ist, erst das aufschlussreiche Nachwort der Camus-Biographin Iris Radisch zu lesen, bevor man sich an die Lektüre des Romans Der Fall macht, der jetzt von Grete Osterwald neu übersetzt wurde. Radisch ordnet den Roman in drei Werkkreise des Camusʼschen Œuvres ein: Der erste ist der „Zyklus des Absurden“ und umfasst den Roman Der Fremde, die philosophische Schrift Der Mythos von Sisyphos und das Drama Caligula. Der zweite umfasst unter dem Stichwort „Die Revolte“ den Roman Die Pest, den Großessay Der Mensch in der Revolte und das Drama Die Gerechten. Danach, so Radisch, sei Camus in eine Krise geraten, nicht zuletzt wegen der ätzenden Kritik seines Rivalen Jean-Paul Sartre an der angeblichen Flachheit von Der Mensch in der Revolte. Zu einem dritten, wegen des frühen Unfalltodes von Camus nicht vollendeten Kreis unter dem Stichwort „Nemesis“ sollte der erst als kürzere Erzählung geplante Roman Der Fall gehören.

Dieser nur dem Umfang nach schmale Roman ist keine leichte Lektüre und war beim breiten Lesepublikum weniger beliebt als die beiden Vorgängerromane. Der Form nach – und auch gemäß Camusʼ Intention – handelt es sich um einen dem Drama nachempfundenen impliziten Dialog, das heißt: eigentlich um einen Monolog, in dem Fragen, Einwände und kurze Kommentare des Gesprächspartners vom einzigen Sprecher aufgenommen und teils wiederholt werden. Dieser Sprecher heißt Jean-Baptiste Clamence, ursprünglich ein Rechtsanwalt aus Paris, der zum Zeitpunkt der Handlung in Amsterdam lebt und sich nun „Bußrichter“ (juge-pénitent) nennt. Über seinen ‚Gesprächspartner‘ stellt sich am Ende heraus, dass auch er ein Pariser Rechtsanwalt ist. 

Clamence hält sich meist in der Bar Mexico-City im Amsterdamer Rotlichtviertel auf und spricht dort Menschen an wie den namenlos bleibenden Mann, dem er an fünf aufeinander folgenden Tagen seine Lebensbeichte vorträgt. Interessant ist Iris Radischs Hinweis, dass Camus dem Roman erst am liebsten den Titel Ein Held unserer Zeit gegeben hätte, darauf aber verzichten musste, weil dieser Titel bereits für ein anderes Werk der Weltliteratur vergeben war. Michail Lermontows Protagonist im gleichnamigen Roman von 1840, Petschorin, hat einiges mit Camusʼ Figur Clamence gemein, ist er doch ebenso desillusioniert vom Leben, hält sich für liebesunfähig und erweist sich in manchen Situationen als amoralisch.

Gerade im Hinblick auf die Übersetzung ins Deutsche ist der Titel Der Fall eine eigene Überlegung wert. Im Deutschen hat das Wort „Fall“ den Bedeutungsumfang zweier französischer Wörter, nämlich la chute (Romantitel) für das Herunterfallen, Abstürzen im wörtlichen Sinn, und le cas für den Rechtsfall und andere, meist komplexe, Sachverhalte. Wie Hofmannsthals Lord Chandos in seinem berühmten Brief hätte Jean-Baptiste Clamence sagen können: „Mein Fall ist in Kürze dieser…“ Dann wäre cas das richtige Wort gewesen. Aber Camus hat sich für la chute entschieden, und das vermutlich aus zwei Gründen: Zum einen entwickelt sich nach einem ‚Fall‘ im wörtlichen Sinn von ‚Sturz‘ das Leben des Rechtsanwalts Clamence zu einem ‚Fall‘ im Sinn einer Lebenskrise. Eine junge Frau stürzt sich in die Seine, Clamence ist Zeuge, unternimmt aber nichts. Das ist sein ‚Sündenfall‘. Radisch weist darauf hin, dass das Wort la chute auch diese Bedeutung haben kann. Es wird damit, bei diesem Autor auf den ersten Blick überraschend, zum Schlüsselwort für die religiöse Dimension des Romans. Das Sprichwort „Hochmut kommt vor dem Fall“, das für die christliche Literatur des Mittelalters oft sinnstiftend war, lässt sich auf den Bericht des Rechtsanwalts auch anwenden.

Vor dem ‚Fall‘ hat er ein rechtschaffenes, von seinen Mitmenschen anerkanntes, auch innerlich gefestigtes Leben geführt. Er hat sich als Anwalt vor allem für die Armen und Benachteiligten eingesetzt. Im Nachhinein bekennt er, „dass ich stets vor Eitelkeit geplatzt bin“. Seine positive Wirkung auf Mitmenschen, unterstützt durch sein gefälliges Äußeres, hilft ihm auch bei seinen Frauenbeziehungen. In dieser Hinsicht leidet er keinen Mangel, aber von echten Liebesverhältnissen kann nicht die Rede sein. Vielmehr befriedigen die Frauen seine Neigung zum Narzissmus, die Clamence ohne Weiteres für allzumenschlich erklärt: „So ist der Mensch, werter Herr, er hat zwei Gesichter. Er kann nicht lieben, ohne sich zu lieben.“ 

Bereits in dieser Phase machen sich Risse in der scheinbar makellosen Oberfläche seines abwechslungsreichen Lebens bemerkbar. Der Zerfall der Selbstverständlichkeiten wird durch ein Ereignis ausgelöst, das keine natürliche Ursache zu haben scheint. Plötzlich, auf einem Abendspaziergang beim Überqueren einer Brücke über die Seine, hört er hinter sich ein Lachen, entdeckt aber keine Person, die ihn etwa ausgelacht haben könnte. Dieses Erlebnis wirft ihn aus der Bahn. Man fühlt sich an eine Formulierung aus Der Mythos von Sisyphos erinnert: „Dann stürzen die Kulissen ein.“ Die Erkenntnis des Absurden führt dazu, dass das Alltägliche fragwürdig wird. Aus dieser Situation gibt es laut Aussage von Camus in jenem früheren Text nur zwei Auswege: Selbstmord oder Wiederherstellung, d. h. Verdrängung und Wiederaufnahme der Routinen des Alltags.

Clamence wählt für sich einen anderen Weg. Er versucht seinen guten Ruf zu zerstören, indem er seine Mitmenschen durch provokative Äußerungen, u. a. durch unkonventionelle Plädoyers vor Gericht, verstört. Aber er macht, wie Max Frischs Protagonist in dem zwei Jahre zuvor erschienenen Roman Stiller, die Erfahrung, dass Fremdbilder sehr fest gefügt sind. Seine Umwelt ist zwar irritiert, hält aber lange am Bild des rechtschaffenen Clamence fest. Seine Selbstzweifel wachsen und verschärfen die Krise, als er nichts für die Frau unternimmt, die sich von der Seinebrücke stürzt. Jetzt ist er fundamental erschüttert, wählt aber wieder nicht den Selbstmord, weil er das Leben zu sehr liebt. Stattdessen versucht er zu vergessen, indem er sich Ausschweifungen hingibt. Er geht in Bordelle, treibt es mit mehreren Frauen gleichzeitig, beginnt zu trinken und wird nun allmählich doch zum Außenseiter in seiner Gesellschaftsschicht, bis er Paris verlässt und ein neues Leben beginnt.

Das letzte Drittel des Romans ist eine Predigt über die Themen Schuld und Unschuld, Freiheit und Knechtschaft in einer Welt ohne Gott. Der Ort, an dem Clamence jetzt lebt, ist ein Schauplatz früherer Verbrechen, über die er scheinbar unbeteiligt spricht.

Ich wohne im Judenviertel oder was sich jedenfalls so nannte, bis unsere Hitlerbrüder dort Platz geschaffen haben. Was für eine Auswaschung! Fünfundsiebzigtausend deportierte oder ermordete Juden, das ist die perfekte Säuberung. Ich bewundere diesen Eifer, diese methodische Geduld. Wer keinen Charakter hat, muss sich wohl eine Methode zulegen. Hier hat sie Wunder gewirkt, ganz unbestritten, und ich wohne am Tatort eines der größten Verbrechen der Geschichte.  

Da der Mensch keinen Gottvater mehr über sich weiß, der ihm seine Sünden anlastet, fühlt er sich selbst zum Richter über seinesgleichen berufen: „Lauter Savonarolas, sage ich ihnen. Aber sie glauben nur an die Sünde, nie an die Gnade.“ Eindrucksvoll und erschütternd ist das Bild von der Spuckzelle (la cellule des crachats), die ein Volk erfunden haben soll, „um sich als das größte auf Erden zu beweisen“: Der Delinquent ist so weit eingemauert, dass nur sein Gesicht freibleibt. Jeder, der an ihm vorbeigeht, darf ihm ins Gesicht spucken, ohne dass er den Speichel abwischen kann. Um sich der Knechtschaft in Form des Urteils der anderen zu entziehen, hat Clamence einen überraschenden Ausweg gefunden: Er bezichtigt sich zunächst aller denkbaren Sünden selbst – wie in der Beichte, die er seinem Landsmann gegenüber ablegt – und kann dann über die Sünden seiner Mitmenschen urteilen. Von seinen Verbrechen seien hier noch zwei aufgezählt: In der Gefangenschaft in Nordafrika hat er den Tod eines Mithäftlings verursacht. Und in seinem Schrank hängt das Original eines 1934 tatsächlich gestohlenen Gemäldes Die Gerechten Richter aus dem Genter Altar von Jan van Eyck, das übrigens bis heute verschollen ist.

Genial und verstörend sind die Gedanken, die sich Clamence über Jesus macht, den er als Ironiker charakterisiert. Es ist hier nicht der Ort, sie zusammenzufassen Der Rezensent kann an dieser Stelle nur dazu auffordern: Man lese selbst! Faszinierend an dem Text ist unter anderem, wie Camus ihn in der Schwebe hält. Der zentrale Satz in Radischs Nachwort lautet: „Wie soll man einem Simulanten glauben, wenn er beklagt, dass sein Leben aus Simulationen besteht?“

Ein fester Boden ist nur da zu erahnen, wo es um eine Reise nach Griechenland geht (wie sie übrigens Camus selbst gemacht hat, kurz bevor er das Buch schrieb). Hier scheint etwas von der „Apologie eines nicht näher bestimmten mediterranen Denkens und Lebens“ (Nachwort) auf, wie sie in den unter den Titeln Hochzeit des Lichts und Heimkehr nach Tipasa zusammengefassten Mittelmeer-Essays beschrieben und gepriesen werden. In Griechenland, so Clamence, hat er Männer beobachtet, die mit ineinander verschlungenen Händen spazieren gingen, in Paris damals undenkbar. „Die Luft dort ist keusch, das Meer so klar wie Sinnenlust.“ Ist das der Gegenentwurf zum ‚aufgeklärten‘ Norden, der im 20. Jahrhundert so viel Unglück hervorgebracht hat und mit unerbittlichem Arbeitsethos die Natur zerstört?

Die Neuübersetzung Grete Osterwalds ist in Wortwahl und Satzbau deutlich näher am Urtext als die alte von Guido G. Meister. Diese war zwar dem kunstvollen Parlando der monologisierenden Figur durchaus angemessen, wie man beim Hören des von Ulrich Matthes eingelesenen Hörbuchs feststellen kann. Aber die Freiheiten, die sich Guido Meister bei der Übertragung nahm, erscheinen an manchen Stellen bedenklich. Es ist also zu begrüßen, dass es nun eine deutsche Version des Romans gibt, die diesen, in der Zielsprache, seiner ursprünglichen Gestalt annähert. Wer allerdings das Französische beherrscht, wird vielleicht beim Vergleich von Übersetzung und Urtext die Geschmeidigkeit und Schlankheit der Sprache Camusʼ noch mehr schätzen lernen – ohne dass damit etwas gegen die Qualität der Neuübersetzung gesagt sein soll.

Titelbild

Albert Camus: Der Fall.
Aus dem Französischen von Grete Osterwald.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2023.
112 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783498001308

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