Schauplatz und Schauspiel

Monika Schmitz-Emans stellt auf rund 900 Seiten eine Spielart von Literatur und künstlerischer Buchgestaltung vor, das „Buchtheater“

Von Gabriele WixRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gabriele Wix

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach einschlägigen Vorarbeiten wie in dem 2019 von der Autorin herausgegebenen Kompendium Literatur, Buchgestaltung und Buchkunst mit eigenen Beiträgen zu „Theater und Buch: Papiertheater, Buchtheater, Theater-Spiel-Bücher“, „Spiele-Bücher: Semantiken des Spiels und der Spiele, Spiel(e)-Metaphern“ und „Buchvision, Entfaltungskunst und Papierbastelei bei Stéphane Mallarmé“ oder einer selbständigen Veröffentlichung zum Zeitungstheater aus dem Jahr 2020 bietet der neue Band vor allem eine Fülle von Beispielen quer durch die Jahrhunderte und zeigt, wie die Medialität und Materialität des Buchs zur Gestaltung von Schauplätzen und Schauspielen mit Sprache und Bild genutzt werden kann.

Das Einleitungskapitel geht von einem glücklichen und dem denkbar naheliegendsten Einstieg in die Materie aus, einem kollaborativ entstandenen Künstlerbuch von Thomas Bayrle und Bernhard Jäger aus dem Jahr 1964. Es trägt den Titel Kleines Welttheater und beantwortet damit selbstredend die Fragen, die von der Autorin vorweg aufgeworfen wurden: „Gibt es ‚Buchtheater‘? Was verbindet Bücher mit Theatern?“

Der Titel von Bayrle und Jäger ruft die bis in die Antike zurückreichende Metaphorik des theatrum mundi, des Welttheaters, auf, spielt möglicherweise aber auch auf die kleinen mechanisch betriebenen Puppentheater an, die man im 19. Jahrhundert, so die Autorin, gelegentlich ‚Kleines Welttheater‘ genannt habe. Um eine Bühnenkulisse zu simulieren, wählen die Künstler statt des Kodex die Form eines Leporellos von zehn Seiten. „‘Seltsam!‘ / rief die Gesellschaft. / H. v. Kleist“ liest man oder: „Pfui! / schäme dich! / Ich kann schon / denken, was /du thun wirst. / Shakespeare“. Solche Zitate von Dramentexten und Dramenreflexionen aus der Weltliteratur, neben Kleist und Shakespeare auch Benn, Hasenclever oder Brecht, gehen mit figurativen Darstellungen und Farbflächen zusammen. Die typographisch lebendig gestalteten Texte scheinen vor Horden von Figuren zurückzuweichen oder werden vom bildlichen Geschehen überlagert, und so entfalten die Seiten ihre eigene Spieldynamik.

Im einleitenden Kapitel schaut die Autorin weiter in ausgewählte Beispiele aus dem 20. Jahrhundert, in denen konkrete Theaterstücke in das Buchmedium umgesetzt sind und das so als Schauplatz und Schauspiel zugleich fungiert: Tell von Warja Lavater (1962), Leonce und Lena von Peter Malutzki und Georg Büchner (1989), Unter Wasser. Ein Marionettenspiel, ebenfalls vonPeter Malutzki und Günter Eich (1990) oder Antigonick (Sophokles) von Anne Carson, Bianca Stone und Robert Currie (2010). Eine Doppelseite aus dem Marionettenspiel dient der Autorin als Leitmotiv ihrer Studie, da es deren „theatrale und zugleich theaterreflexive Dimension“ vereine. Auf dem Umschlag ist diese Doppelseite leicht beschnitten abgebildet; der Falz ist als solcher nicht eindeutig erkennbar und erscheint eher als zeichnerisches Moment: Unsichtbare Hände steuern die Fäden der Marionetten, skurrile anthropomorphe Montagen aus Werkzeugen, in zarten Farben gemalt. Ein Schriftzug „Lassen Sie sich mit dem nicht ein, Agnes!“ läuft diagonal oberhalb eines Wiegemessers aus dem Bild. Schon der erste Blick, der Bayrles und Jägers Kleines Welttheater galt, führt zu der Schlüsselthese des Bands:

Gemäß dem Lehrsatz, daß dort, wo zwei Größen einer dritten gleich sind, sie selbst einander ebenfalls gleich sind, ergibt sich aus den Ausgangsgleichungen Theater=Welt und Buch=Welt die Konklusion Buch=Theater.

Der Untertitel des Buchs lautet Spielformen, Konzepte und Poetiken des Buchs als Theater in Buch- und Literaturgeschichte. Damit ist ein systematischer Ansatz schwer greifbar: Weder geht es um eine literatur- und buchgeschichtliche Darstellung noch um eine literatur- und buchtheoretische, die entwickelt und exemplarisch an einzelnen Werken belegt würde. Eher gleicht die Studie einem Gang durch eine Spezialbibliothek, deren Bestand an Büchern, die sich als Theater erfassen ließen, zunächst in historischer Abfolge, ausgehend vom 18. Jahrhundert, vorgestellt und unter den im Untertitel genannten und in einem kurzen theoretischen Teil entfalteten Aspekten kommentiert wird (Teil A bis D), aber auch unter bestimmten Figuren wie „Gaukler“, „Komödianten“ oder „Puppen“ betrachtet wird (Teil E). Der Bogen reicht von Samuel Richardson, Clarissa, über Lawrence Sterne, The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman, Ludwig Tieck, Phantasus, E. T. A. Hoffmann, Prinzessin Brambilla, Gustave Dorés Gestaltung des Don Quijchote wie überhaupt die illustrierten Buchausgaben literarischer Klassiker, der Werke Shakespeares, Johann Wolfgang von Goethes, Friedrich Schillers oder Jules Vernes‘ bis hin zu der experimentellen Typografie bei Stéphane Mallarmé, Kurt Schwitters, in der Konkreten Poesie, bei Roland Barthes, Herta Müller, Yoko Tawada, Salvador Plascencia, Raymond Federman und vielen mehr. Unter dem Oberbegriff des Buchtheaters findet sich das Romantheater, das Theater der Zeichen oder die Schauspiele der ‚Letters‘, das Imaginationstheater, das Fingertheater, das Zeichentheater, das Stimmentheater, das Wörtertheater, das Kopftheater, das Bildertheater… 

Aus der Fülle der Beispiele folgt zwangsläufig, dass eine Vertiefung selbst in einem 900 Seiten umfassenden Buch nicht möglich ist, wobei die Kommentare und Erläuterungen nicht immer den Argumentationsstand spiegeln. Verwirrend beispielsweise bei der Darstellung von Max Ernsts Collagenromanen die These, er habe bei seinen Collage-Vorlagen auf Bekanntes und Hochkulturelles wie auf Illustrationen von Gustave Doré verzichtet. Das Gegenteil ist der Fall. Max Ernst zeichnet gerade ein unterschiedsloses Auswählen der Vorlagen aus, die er für seine Collagen verwendet, er nutzt Feuilletonromane ebenso wie Miltons Paradise Lost mit Gustave Dorés Grafiken, populärwissenschaftliche Zeitschriften oder Musterkataloge. Im Fall des dritten Collagenromans Une semaine de bonté ist die Verwendung der Illustrationen Dorés durch einen berühmten Augenzeugenbericht anschaulich überliefert. Valentine Hugo berichtete, dass Max Ernst, der wie sie 1933 Gast im Schloss der Gräfin Maria Ruspoli in Vigoleno war und dort an seinem Roman arbeitete, in der Schlossbibliothek alle Drucke Dorés aus Miltons Roman herausgerissen habe. Sein nächtliches Werkeln, das fortdauernde Geräusch des harten metallischen Klickens der Schere auf der Tischplatte, habe ihr den Schlaf geraubt. Was die Gattungszuordnung der Collagenromane Max Ernsts anbetrifft, ist es zwar richtig, dass erst der dritte Collagenroman die Bezeichnung „Roman“ als Untertitel trägt, gleichwohl wurde 1929 bereits der erste als Roman angekündigt und auch zwei Vorabdrucke in der Zeitschrift Variétés wurden als Auszug aus einem Roman bezeichnet.

Das Buchtheater ist ein Angebot an Leserinnen und Leser, mit großer Neugier der Entdeckerlust der Autorin zu folgen, und sie werden die lange Reihe der Bücher immer wieder gerne mit eigenen Trouvaillen und Leseerfahrungen ergänzen. Es gibt kein Personen- und Sachregister zur Orientierung, eigentlich unverzichtbar in einem so umfangreichen Band, wohl aber am Schluss ein zweites, sieben Seiten umfassendes kommentiertes Inhaltsverzeichnis ergänzend zu dem detaillierten, neun Seiten umfassenden Inhaltsverzeichnis zu Beginn.  

Titelbild

Monika Schmitz-Emans: Buchtheater. Spielformen, Konzepte und Poetiken des Buchs als Theater in Buch- und Literaturgeschichte.
Georg Olms e.K. Verlagsbuchhandlung, Hildesheim 2022.
888 Seiten, 78,00 EUR.
ISBN-13: 9783487160603

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