Im Sog von Correctness, Moralismus und Empirismus
Mit seinem zweiten Roman „Nur ein paar Nächte“ bleibt Fabian Neidhardt deutlich hinter seinen Möglichkeiten zurück
Von Günter Helmes
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMit Immer noch wach hat Fabian Neidhardt 2021 einen bemerkenswerten Romanerstling vorgelegt. Die mit diesem Roman einhergehende Hoffnung auf weitere überzeugende Literatur von Neidhardt erfüllt dessen zweiter, drei Generationen in den Blick rückender Familienroman Nur ein paar Nächte allerdings bestenfalls in Ansätzen.
Dafür gibt es eine Reihe von Gründen: Der Roman wirkt der Geschehensabfolge, dem Figurenensemble und den Figurenanlangen nach konstruiert und häufiger unglaubwürdig; erzählsprachlich liegt er meist einen Ton zu hoch und operiert an allzu vielen Stellen mit floskelhaften Trendwörtern, abgegriffenen Beschreibungen und Bildern und dem Vokabular von bewunderten Romanfiguren; figurensprachlich kommt er oftmals plakativ-didaktisch und essayistisch-essentialistisch daher; thematisch ist er auf up to date und randständige Exklusivität hin überladen; angesagte Geschlechterstereotype werden ebenso bedient wie ein bashinghaftes Problematisieren dessen, was landläufig anzutreffen ist; zudem redet der Roman dem aktuell-antirationalen Kult um Gefühle, Befindlichkeiten, Empfindsamkeiten und Bekenntnisse das Wort und ist einem um Betroffenheit, Empathie und (vermeintlicher) Gerechtigkeit kreisenden Pathos verpflichtet.
Nur ein paar Nächte spielt in der Gegenwart in einem süddeutschen Dorf namens Immenau, wartet aber auch mit zahlreichen Rückblicken in die Lebensgeschichten seiner Protagonisten und Protagonistinnen und in diesem Zusammenhang geschickter Weise mit dem einen oder anderen Cliffhänger auf.
In 63 weiter in Abschnitte unterteilten Kapiteln – manche davon weniger als eine Seite lang – geht es um Emil Berger und dessen polnisch-stämmige Ehefrau Milena, deren „knapp 40“ Jahre alte Tochter Salome und den vierunddreißigjährigen Sohn Ben, dessen zwölfjährige pubertierende und bei ihm lebende Tochter Mia mit Down-Syndrom, dazu um eine ganze Reihe weiterer Figuren, die mit den Genannten in mehr oder minder enger Verbindung stehen: Beispielsweise um die weit entfernt in Hamburg lebende, in vielerlei Hinsicht als außergewöhnlich profilierte Orna Schneider als der Mutter von Mia und früheren Partnerin von Ben, um Rita und Anna als Freundinnen von Ben seit Kindheitstagen, um Ritas sechsjährigen Sohn und Mias Spielkamerad Tamay, um diverse Frauen- und Männerfiguren wie Lisa, Katrin, Alex und Bene oder um Viktor, einen Schüler aus einer – selbstverständlich, ist man angesichts der Fülle an präsentierten Konfliktherden versucht zu sagen – zerrütteten Familie.
Stichwort Konfliktherde: Der Roman beginnt damit, dass Ben, nach meinem Dafürhalten erstaunlicher Weise, von seiner aufgelösten Mutter Milena einen Anruf erhält, in dem diese ihm mitteilt, Vater Emil habe ihr „vorhin“ gebeichtet, mit einer anderen Frau, der Arbeitskollegin Thekla, geschlafen zu haben. Daraufhin habe sie ihn „rausgeworfen“. Während die Mutter berichtet und noch darum bittet, dass auch Tochter Salome unverzüglich über das Geschehene informiert wird, hat es an Bens Haustür geklingelt, und es ist der Vater Emil, der mit einem kleinen Aktenkoffer in der Hand um ein paar Tage Asyl bittet. In der Folgezeit erleben wir ihn zerknirscht und von „Trauer“, „Scham“, „Verzweiflung“, „Verwirrung“ und „Hoffnung“ erfüllt, dergestalt, dass er sich zuweilen sogar in den Schlaf weinen muss.
Wie später im Roman berichtet wird, hatten sich Milena und Emil allerdings schon vor der Geburt der Kinder auf eine „offene Beziehung geeinigt“ und auch dementsprechend gelebt – „Wir haben Regeln aufgestellt. Keine emotionale Bindung. Nur Spaß“ –, ohne ihren Kindern je davon erzählt zu haben. Emil wird zudem als jemand beschrieben, der in jungen Jahren aufsässig dem eigenen Vater gegenüber und in der Hausbesetzerszene aktiv gewesen ist, auch als jemand andererseits, dessen eher kleinbürgerlicher Wunsch es gewesen ist, dass die Kinder es einmal besser haben sollten als er. Und von Milena heißt es schablonenhaft, sie zweifele, „ob sie diesen Mann wirklich jemals richtig gekannt hat.“ Im Zusammenleben mit ihm habe sie ihre Träume verloren, er ihr die Freiheit geraubt.
Wie passt das alles zusammen, frage ich mich, ohne damit Unstimmigkeiten und Widersprüche in Figurenanlagen oder Handlungen per se als No-Goes ablehnen zu wollen – im Gegenteil, dosiert sind auch sie es, die eine Geschichte hervorbringen und vorantreiben. Aber hier treten sie in einer Häufung auf, die auch im Sinne des Ungewöhnlichen keine realistische Welt entstehen lässt. Dabei benennt der Autor den Grund für diese unzuträgliche Häufung im „Abspann“ – eine Art autobiographisches Geständnis und Werkstattbericht – selbst, ohne freilich das mit der Art seines Vorgehens verbundene, auf faktual-blinde Akkumulation statt auf Wahrhaftigkeit verpflichteter Gestaltung hinauslaufende Problem zu sehen:
Es steht zwar mein Name drauf [dem Buch; GH], es sind aber die Geschichten und Erfahrungen ganz vieler Menschen. […] Viele von diesen Leuten haben […] auch als Beta-Leser:innen das Buch in verschiedenen Fassungen gelesen und kommentiert. Sie und so viele weitere haben mich inspiriert und mir unzählige Dinge beigebracht […]. Die Ereignisse und Gefühle in diesem Buch sind real. Sie sind ein Mosaik dieser Menschen. Ich durfte es zusammensetzen.
Doch zurück zur Story: Ben und Salome beschließen (meines Erachtens nicht minder erstaunlicher Weise), dass das landläufig Fremdgehen genannte Verhalten des Vaters – das wird fortan wie ein Schwerverbrechen verhandelt, Salome spricht vom Vater als „Drecksfremdgeher“, Ben fühlt durch das Verhalten des Vaters „das Kind in mir“ betrogen –, „als Familie“ geklärt werden müsse. So machen sich denn auch Milena und Salome auf den Weg zu Bens und Mias Haus, und da taucht unerwarteter Weise sogar Orna auf, zu der es jahrelang sozusagen programmatisch keinen Kontakt mehr gegeben hat. So sind alle Voraussetzungen für einen großen Familien-Showdown geschaffen.
Bei dem soll vor allem Vater Emil zur Rechenschaft gezogen werden, und das nicht allein wegen seines Fremdgehens, sondern gleich auch als Ehemann heute und damals und als ein Vater, der zu selten gelobt und zu oft getadelt und zurechtgewiesen hat, vor allem seinen Sohn Ben.
Doch zeigt sich, dass alle irgendwie ‚Dreck am Stecken‘ bzw. ‚eine Leiche im Keller‘ haben, wobei freilich die Männer bzw. Väter letztlich als problematische Figuren dargestellt werden, während Frauen – sie sind im Gegensatz beispielsweise zu den tendenziell zerstrittenen Emil und Ben immer „voller Mitgefühl“ für einander und solidarisch miteinander – auch in ihrem Fehlgehen Verständnis entgegengebracht wird.
Dieses Ungleichgewicht schlägt sich auch in den Figurenanlagen nieder. Wenn Ben von sich selbst glaubt, Mia „ein cooler Vater“ zu sein, ihr aber die Mutter Orna bis zum familiären Showdown komplett vorenthalten hat, aus der alles andere als hinreichend motivierten Angst heraus, sie an Orna zu verlieren, dann macht er im Vergleich zu der sehr unkonventionellen, sehr reflektierten, sehr spontanen und sehr konsequenten Orna einen geradezu erbärmlichen und wie sein Vater Emil eher maulheldigen Eindruck. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass Ben seinen Eltern Entscheidendes über bestimmte Abmachungen zwischen ihm und Orna die Tochter Mia betreffend verschwiegen hat, u. a. mit der Konsequenz, dass Emil ausnehmend wütend auf Orna ist und sie als „Rabenmutter“ des blanken „Egoismus“ zeiht. Angesichts solcher Männer bzw. Väter bzw. Partner kann es nicht verwundern, dass es geradezu als Auszeichnung erscheint, dass die bisexuelle Orna als junge Frau von ihrem Vater wegen ihres Liebesverhältnisses zu einer Katrin rausgeworfen worden ist und auch Rita sich mit ihren Eltern überworfen hat.
Apropos Figurenanlagen: Es ist sympathisch, dass Fabian Neidhardt mit Mia einer Figur mit Down-Syndrom breiten Erzählraum einräumt. Aber kann diese Figur wirklich überzeugen? Mia ist von einer Ironiefähigkeit, Eloquenz, Schlagfertigkeit, Durchsetzungsstärke und Selbstständigkeit, die schon bei Zwölfjährigen, die nicht von Einschränkungen betroffen sind, verwundern würde. Angesichts von privaten Erfahrungen mit Menschen mit Down-Syndrom finde ich jedenfalls, wenn es um Mia geht, für meine Verwunderung kein angemessenes Wort.
Eine Bemerkung abschließend noch, die nicht den Roman als solchen betrifft, sondern den Verlag. Auf der allerletzten Seite des Buches, dem Impressum, findet sich eingangs das Folgende:
Hinweis zu möglichen Triggern: Dieser Hinweis nimmt auf Menschen mit traumatischen Erfahrungen Rücksicht. […] Wir möchten an dieser Stelle deshalb anmerken: ‚Nur ein paar Nächte‘ konfrontiert dich mit Beschreibungen von Geburt und Fehlgeburten.
Rein pragmatisch argumentiert: Wenn es dem Verlag damit ernst ist, warum dann diesen Hinweis ‚auf den letzten Drücker‘ und nicht prominent vor Romanbeginn? Der „Hinweis zu möglichen Triggern“ auf der Rückseite des Einbandes hilft da nicht wirklich weiter.
Entscheidender aber: Wie weit soll die Infantilisierung der Erwachsenenwelt, zumal des Publikums, an das sich der Roman doch offensichtlich wendet, eigentlich noch getrieben werden?! Wenn, wie in diesem Roman, der Versuch gemacht wird, vom wirklichen Leben zu erzählen, hingegen nicht von demjenigen auf dem Ponyhof, ist es doch wohl unausweichlich, auch von potentiell Traumatisierendem zu handeln, oder?
Und: Erwachsene Leserinnen und Leser, die sich auf Literatur einlassen, gehen als Mündige doch vermutlich nicht davon aus, in Märchenwelten für Kinder versetzt zu werden. Aber diese Märchen haben ja, Triumph der Ironie, häufig genug mehr traumatisierendes Potential als ein Roman à la Nur ein paar Nächte – und traumatisieren dennoch (in der Regel) nicht! Hat nicht, schließlich und endlich, alles und jedes das Potential zum Traumatisieren und Triggern, gerade die fensterlose Klause, in die man sich zurückziehen müsste, wenn man dem Leben wie der Literatur gegenüber auf Nummer sicher gehen wollte?
|
||