Ein Kein-Buch
Eine umfangreiche Festschrift versucht, „Ästhetiken der Fülle“ vorzustellen
Von Jörg Füllgrabe
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Leitfrage, die vorliegendem Band zugrunde liegt, ist so fundamental wie naheliegend – es geht um Fülle und Überfülle sowie um die kulturelle Zähmung vorkultureller Mechanismen. Die Annahme, dass die Welt, also deren menschliche Bewohnerschaft, mitunter deutlich weniger nach Erfüllung als oft genug nach (Über-)Fülle strebt, ist etwa hinsichtlich der Hyper-Bezahlung in manchen Profi-Sportarten ein Ärgernis und hinsichtlich umweltschädigenden Handelns – zu dieser Erkenntnis sind die Menschen schon lange vor Fridays for Future oder der Letzten Generation gekommen – katastrophal, aber eben auch folgerichtig. Und wenn die Kinks auch vor Jahrzehnten bereits das Phänomen „bigger house, bigger fridge, bigger washing machine“ in ironisch-satirischer Brechung besangen, so ist dies letztendlich doch nur die textlich formulierte spießbürgerliche Umsetzung von ‚schneller, höher, weiter‘.
Ästhetiken der Fülle will sich dieser Thematik nun unter besonderer Berücksichtigung der mittelalterlichen deutschsprachigen Literatur annehmen. Bereits der Einstieg wirkt allerdings etwas unbeholfen, wenn man sich im Klappentext in einer Aufzählung verliert, die so wahr ist, dass sie eigentlich keine Aussagekraft mehr besitzt, und in bestem Marktschreierduktus verkündet:
Die mittelhochdeutsche Literatur zeichnet sich durch ein breites Spektrum an Figuren, Gegenständen, Kulturen und Räumen, abundanten Reden, Topiken des nicht mehr Steigerbaren, Mythen von Reichtum und Überfluss, Anspielungsvielfalt, Mehrdeutigkeiten, Doppelbödigkeiten der Erzählweise und Multiperspektivität auch über Textgrenzen hinaus aus. Aspekte dieser Fülle mittelalterlichen Erzählens zeigen die hier versammelten Beiträge, die sich ganz unterschiedlichen Texten und Themen widmen.
Und es geht auch irritierend weiter, denn der Anlass für die vorliegende Publikation, also die Würdigung der Person und des wissenschaftlichen Schaffens von Elke Brüggen, findet zunächst keine Erwähnung. Stattdessen werden gelehrte Zitate als Wegweiser zum Thema genutzt und es findet Definitorisches statt. Die – zumindest implizite – Paarung ‚Fülle–Ästhetik‘ wird in der Einleitung als Leitbild nicht nur beschreibend definiert, sondern zugleich als Postulat einer Erwartungs- und Handlungsmaxime in den Raum gestellt: „Vorstellungen von ‚Wohlstand‘, ‚Überfluss‘ oder ‚Verfügbarkeit‘ haben seit der Antike ihre Personifikation in der Allegorie der abundantia sowie in dem sprechenden Dingsymbol des Füllhorns (cornu capiae) gefunden.“ Das ist korrekt, jedoch führt die naive Erwartung, dass dieser Umstand womöglich in einem einleitenden Beitrag, als Hinführung gewissermaßen, noch konkreter erläutert würde, in eine textliche Sackgasse.
Daraufhin stimmen Herausgeberinnen und Herausgeber, spät aber immerhin, schließlich doch eine Laudatio auf Elke Brüggen an, in der sowohl die wissenschaftliche Tiefe als auch Breite ihrer Arbeit gelobt wird und in der immer wieder ein Bezug auf die im Titel angesprochene Fülle erfolgt. Dies ist indes trotz Bezugnahme auf mittelalterliche Texte, Martin Luthers Sendbrief vom Dolmetschen oder Umberto Ecos Quasi dasselbe mit anderen Worten. Über das Übersetzen eher unscharf gehalten und hinterlässt mitunter mehr Fragen, als Antworten geboten werden, ist hier doch explizit von „dem Angedeuteten“ die Rede. So erfahren diejenigen, die sich der Einleitung widmen, denn auch: „Aus dem Angedeuteten resultiert seinerseits eine Fülle an Gründen, unserer Dankbarkeit und Verbundenheit mit Elke Brüggen wenigstens symbolisch durch eine Festschrift mit dem thematischen Schwerpunkt ‚Ästhetiken der Fülle‘ Ausdruck zu verleihen.“
Einen Absatz zuvor findet sich zudem folgende Aussage: „Das so vielfältige Œvre von Elke Brüggen wird von einer Leitidee verbunden: Das durch Subtilität Schöne, durch Komplexität Reizvolle und in seiner Humaität Zeitlose mittelalerlicher Erzählkunst in den Nachvollzug zu bringen und das auch über die Grenzen des eigenen Faches, ja der Wissenschaft selbst, hinaus.“ Eine solche Emphase sollte doch zur Konsequenz haben, dass die Geehrte wenigstens kurz vorgestellt und, immerhin in Auszügen, das umfangreiche und vielfältige Œvre in Form eines bibliographischen Verzeichnisses nachgewiesen werden würde. Auch hier sucht man vergebens und muss für nähere Informationen zu Person und Werk stattdessen auf die Homepage der Universität Bonn zurückgreifen.
Stattdessen kommt auf Leserinnen und Leser quasi ungebremst – und thematisch ungeordnet – die ‚(Über-)Fülle‘ an Beiträgen zu. Um nun nicht grundsätzlich falsch verstanden zu werden: Diese Beiträge sind (in ihrer Mehrzahl zumindest) interessant und damit lesenswert. Wenn aber einfach nicht ersichtlich ist, in welches Themengebiet ein Beitrag gehört, wird ein letztlich frustrierender Suchprozess zur konsequenten Folge. In wessen Interesse sollte dies aber sein? Ganz bestimmt nicht in dem der Herausgeberinnen und Herausgeber, auch nicht der Geehrten oder der Beitragenden – und gewiss nicht der Leserinnen und Leser, für die die Lektüre kein abenteuerliches Suchspiel sein, sondern die Möglichkeit bieten sollte, zu neuen Erkenntnissen zu gelangen und womöglich eigenes Arbeiten darauf zu gründen.
So reizvoll es jetzt auch wäre, die Einzelbeiträge vorzustellen, würden die stolzen 38 Texte hier den Rahmen sprengen. Gleichwohl soll summarisch wie explizit das eine oder andere doch angesprochen werden. Zunächst zum Allgemeinen: Sowohl der Einleitungstext als auch die Umschlaggestaltung verweisen explizit auf das Mittelalter, was jedoch zum Teil durch eine überschwängliche Abfolge von Themenfelderweiterungen am Ende der Einleitung bereits aufgebrochen wird. Nun lassen sich die Inszenierung(en) von Pracht und Fülle im ‚erzählten Mittelalter‘ von Sir Walter Scotts Ivanhoe (1819) als Mittelalterrezeption noch mit dem Kernbereich verknüpfen, wenngleich das doch eher gegen Ende des Bandes geschehen sollte, und das gilt natürlich erst recht für die frühneuzeitliche Geschichtsklitterung Johann Fischarts.
Dann aber taucht das eine oder andere wirklich Verwirrende auf: Eruptive Fülle. Zu Goethe in Neapel, Erfüllter Augenblick? Zu Zeitinseln bei Jean-Jacques Rousseau, und als absoluter Höhepunkt: Eine Fülle von Nichts. Reise zu den Schrecken des Eises und der Finsternis. In letzterem Beitrag geht es um die von Christoph Ransmayr in Romanform verarbeitete abenteuerliche Polarfahrt österreichischer Forscher im 19. Jahrhundert, die zwar ihr Schiff, die Admiral Tegetthoff, zurücklassen mussten, allerdings bis auf den tuberkulosekranken Maschinisten die Heimat wieder erreichten. Der – trotz der angebrachten Kritik lesenswerte – Beitrag sprengt nicht nur die immer wieder zumindest implizit vorgegebene Konzentration auf ‚Zeit und Raum‘ des Mittelalters, sondern führt das Thema zur Gänze ins Feld des Willkürlichen, da eine Fülle von Nichts hier nicht – das wäre noch irgendwie stringent – als Kontrapunkt zu der ansonsten thematisierten Wahrnehmung, Beschreibung, Rezeption et cetera von Fülle und Reichtum angesetzt ist, sondern die Leere zur Fülle werden muss, weil sie ja in jenem Kontext dominant ist. Eindeutiger kann das Strukturproblem wohl kaum auf den Punkt gebracht werden.
Aber auch der eine oder andere Beitrag selbst ist insofern absurd, als mitunter Elemente fehlen, die, sollten sie nicht bereits in der Schule vermittelt worden sein, zumindest doch in systematischen Proseminaren nahegebracht werden sollten. Referate, Hausarbeiten, Aufsätze, alle Texte dieser Art sollten formal Einleitung, Hauptteil und Schluss aufweisen. Dass Referate und sogar Hausarbeiten immer wieder einmal den letzten Teil vermissen lassen, ist nicht neu, dass derlei allerdings nun ebenfalls bei Publikationen seriöser Verlage vorkommt, erscheint dem Rezensenten schon als Novum. Und wenn dies – das sei nachhaltig betont – auch tatsächlich nur bei einzelnen Beiträgen der Fall ist, macht es den Umstand als solchen, also das offensichtliche Unterlassen einer Endredaktion, leider nicht besser.
Als Beispiel sei zunächst auf den bereits erwähnten Beitrag zum Ivanhoe (letztlich eine knappe Paraphrase des Scott’schen Romans) verwiesen, dessen Lesegenuss nicht unbedingt durch das Ende des Textes gefördert wird. Dort heißt es:
Den Roman beschließt die Erzählinstanz mit dem Verweis auf den viel zu frühen Tod des generösen, impulsiven und romantischen Königs, nachdem sie zuvor den Leser*innen noch ein nicht unwichtiges, intimes Detail über die Ehe Ivanhoes und Rowenas enthüllt hat, das die traditionelle ‚happy-end‘-Konzeption der typischen Romanze modifiziert und zugleich dokumentiert, dass selbst auf der ganz privaten Ebene des Ehelebens Ambivalenzen, ‚blinde Stellen‘ und Ungewissheiten zu konstatieren sind.
Im dann abschließenden Zitat werden die Tiefe und Dauer der Liebe zwischen dem Ritter Ivanhoe und Rowena sowie die Reminiszenzen an die Gestalten von Rebecca und Alfred angesprochen – und das geneigte Publikum seinen eigenen Interpretationen überlassen.
Ebenfalls bemerkenswert ist das Ende zum Beitrag über die Rüstungen der Zwergenkönige Laurin und Walberan als Spiegel einer Ästhetik der Fülle. Dass die von den Zwergenherrschern zur Schau gestellte Prachtentfaltung nicht nur Neid und Bewunderung, sondern bei den Mannen um Dietrich von Bern pures Missverstehen auslösen muss, wird an den Reaktionen der Berner deutlich, „die Laurin und Walberan als Engel verkennen und nicht als Zwerge einzuordnen vermögen. Laurin ist für Dietrich sogar zunächst einmal ein unerklärliches Wunder: GOtt der Herr ist ein wunderer. Ob er sein wunder hat getan, allhie an diesem kleinen mann?“ Diese grundsätzliche Frage wird bedauerlicherweise weder weiter diskutiert noch gar beantwortet; der Beitrag endet mit diesem Zitat quasi im Nichts. Ob damit eine Brücke zum Ransmayr-Beitrag geschlagen werden soll, ist nicht ersichtlich, aber doch unwahrscheinlich.
Selbst im Detail also scheinen die Probleme en miniature auf, die sich massiv in der eben nicht erkennbaren Struktur des Buches niederschlagen. Zum Positivsten: Die Ausstattung und Ausführung des vorliegenden Bandes sind – wie nicht anders vom Schwabe-Verlag gewohnt – solide. Das ist im vorliegendem Fall aber auch dringend notwendig, denn da jegliche thematische Orientierungshilfe konsequent verweigert ist, wird der Band sicher häufiger als gewöhnlich der Suche halber in die Hand genommen werden müssen. Die entsprechenden praktischen Auswirkungen nimmt ein fest gebundenes Buch (ja, auch Bücher haben ein Seelenleben!) sicherlich klagloser hin als die Variante Paperback.
Auch nach mehrfachem Lesen, Querlesen und Durchblättern ist es nicht einfach, eine angemessene Bewertung zu treffen. Dies beginnt im Strukturellen und zieht nachhaltige Beeinträchtigungen des ‚Gebrauchswertes‘ nach sich, weil etwa die Grundsatzparameter, anhand derer sich die Einzelbeiträge adäquat vergleichen ließen, allenfalls rudimentär zu fassen sind. Deutlich ausgedrückt: Eine nachvollziehbare und nutzungsfreundliche Strukturierung des Ganzen ist nicht erkennbar. Es gibt löblicherweise sowohl ein Abbildungs- als auch ein Abkürzungsverzeichnis; ein Register jedoch, das zumindest etwas Orientierungshilfe hätte bieten können, gibt es wiederum nicht. Somit macht die Überfülle angesichts ihrer amorphen Erscheinung letztendlich ratlos. Mag die Sortierung der Beiträge allein durch die alphabetischen Vorgaben der jeweiligen Nachnamen bereits bei kleinerem Umfang fragwürdig sein, wird das Ganze bei knapp 500 Seiten definitiv nicht mehr vergnüglich.
Wer Zeit und Geduld mitbringt und die Erwartung an eine rasche Zielführung – in welchem Sinne auch immer – nicht hegt, wird sicherlich Interessantes finden können und zufrieden sein, alle anderen vermutlich eher nicht. Die Lektüre des Bandes hinterlässt dementsprechend ein Gefühl von Hilflosigkeit. Die Nicht-Ordnung und die damit verbundene Disparität sind einfach zu erdrückend, um dem Ganzen mit viel Begeisterung zu begegnen. Oder um beim Thema und beim Titel zu bleiben: Fülle ja, Ästhetik(en) na ja!
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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