Am Anfang war der Prompt

„Merzmensch“ Vladimir Alexeev zeigt Wege in die digitale Kunst

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse führte kaum ein Weg am Thema künstliche Intelligenz (KI) vorbei. Dabei ging es auch um Fragen wie: Bedrohen die Algorithmen die Branche? Wie sollen die Urheberrechtsfragen geklärt werden? Noch im Buchmessejahr 1 nach „ChatGPT& Co“ ist man sich unter den Autorinnen und Autoren, die bereits mit der KI experimentiert haben, darüber einig, dass KI-generierte Texte dabei helfen können, Ideen zu finden oder Texte zu überarbeiten. Zweifelsohne bieten die neuen Technologien auch Unterstützung bei der Recherche oder dem Aufbereiten von Inhalten von Belletristik oder Sachbüchern. Auf der anderen Seite werden jedoch ausschließlich auf der Basis von KI erzeugte Texte als fade, langweilig und wenig lesenswert empfunden. Können also mittels KI lesenswerte Romane geschrieben und betrachtenswerte Bildkunstwerke geschaffen werden?

Es sind bereits zahlreiche Publikationen erschienen, die das unaufhaltbare Eindringen der Digitalisierung in Kunst und Literatur begleiten. Im Berliner Verlag Klaus Wagenbach erscheint von Annekathrin Kohout und Wolfgang Ullrich die Reihe Digitale Bildkulturen, die den neuen Formen und Verwendungsweisen von Bildern gewidmet ist. Bisher 19 Titel beleuchten ästhetische, kulturelle sowie soziopolitische Zusammenhänge und bieten weiterführendes Material zu den Schlüsselbegriffen digitaler Kunst. Vom Kulturwissenschaftler, Publizisten und Künstler Vladimir Alexeev, der unter dem Autorenpseudonym „Merzmensch“ schreibt, ist nun der Band KI-Kunst: Kollaboration von Mensch und Maschine erschienen. Alexeev, der auch über die historische Avantgarde, insbesondere den Dadaismus und die Merzkunst von Kurt Schwitters geforscht hat, beobachtet die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz seit mehr als zehn Jahren und thematisiert in einer kompakten Monografie die Folgen der „disruptiven Technologien“.

Aufgrund eigener Experimente mit KI-Instrumenten und nachdem er sich mit vielen Künstlern und KI-Experten ausgetauscht hat, stellt Alexeev die kreativen Potenziale von KI-generierter Kunst vor. Vor allem „Einsteiger“ erhalten einen gelungenen Überblick, da zunächst die begrifflichen Grundlagen dessen, was unter KI-Kunst verstanden wird, erläutert werden. Der Verfasser stellt den aktuellen Stand der technologischen Entwicklung vor, bis hin zu den neuesten Programmen, die in der kreativen Szene angewendet werden. Die Studie schließt mit einem Überblick über die oft kontrovers verlaufenden Debatten über den Einsatz von KI-basierten Systemen und einem engagierten Plädoyer des Verfassers, die Chancen schöpferischer Partizipation an KI-Kunst zu nutzen.

Im Kern geht es darum, dass die Autorität der Kunst, die sich im Laufe der Jahrhunderte zu einer „normativen Instanz mit eigenen Regeln“ entwickelt hat, von den verschiedenen Avantgarden – über die Fluxus-Bewegung bis zur Emergenz der digitalen Kunst – immer mehr infrage gestellt wird. Schon im Jahr 1969 hatte der Semiotiker und Schriftsteller Umberto Eco auf dem internationalen Symposium „Computers and Visual Research“ in Zagreb dieses „autoritäre Verhältnis“ kritisiert, als bereits abzusehen war, dass Forscher und Künstler zukünftig durch die Anwendung von Computertechnik in ein neues, verändertes Verhältnis zu den von ihnen geschaffenen Objekten treten würden. Heute verschaffen die kreativen Methoden der KI einer breiten Öffentlichkeit neue Zugänge und ermöglichen ihnen die Teilhabe an einer sich globalisierenden Kunst. Die Kunst demokratisiert sich und fordert zu schöpferischer Partizipation heraus. Besonders die letzten zehn Jahre, so Alexeev, haben gezeigt, welche Potenziale in der Zusammenarbeit von Mensch und Maschine stecken. Im Anschluss an die grundlegenden Arbeiten des US-amerikanischen Informatikers Ian J. Goodfellow – er ist einer der führenden Entwickler von Methoden des maschinellen Lernens („Deep Learning“) – begreift Alexeev Kreativität als „die Produktion von neuem Wissen aus bereits vorhandenem Wissen“. Vor allem im visuellen Bereich fordert die Unterstützung durch internetbasierte Programme wie ChatGPT, DALL-E und neuerdings MIDJOURNEY die Kreativität von Künstlerinnen und Künstlern heraus. Der Einspruch, dass durch den Einsatz von KI-Modellen nichts Originelles geschaffen werden könnte, sei spätestens durch die Diskussionen im Gefolge des Poststrukturalismus entkräftet worden: Schon Julia Kristeva habe konstatiert, dass es nichts Originelles mehr gebe, da Kunst und Literatur intertextuell in einen „ewigen Dialog“ mit den Hervorbringungen der Kultur getreten seien. Roland Barthes, der vom „Tod des Autors“ gesprochen habe, sei ebenso dafür eingetreten, dass ein Text „aus vielfältigen Schriften zusammengesetzt“ ist, die „verschiedenen Kulturen entstammen und miteinander in Dialog treten“. So spiegeln auch die durch KI generierten Kunstwerke die „Gesamtheit des Wissens“ in ihren Datensätzen. 

Kritisch räumt der Verfasser ein, dass die unkontrollierte Komposition von Datensets, die für das „Training“ der KI-Maschinen notwendig sei, prinzipiell auch Risiken mit sich bringe. So habe beispielsweise die Plattform ARTSTATION, deren Basis in den Anfängen aus „kreuz und quer“ aus dem Internet zusammen gesammelten Daten bestanden habe, nur „idealisierte“ Datensätze generiert, also Bilder und Texte von einer dem Mainstream angepassten, „makellosen“ Qualität. Wenn KI-Systeme aber nur das reproduzieren, worauf sie trainiert worden sind, so der Verfasser, sei eine „menschliche“ Inhaltsanalyse und eine nachträgliche korrigierende Beurteilung unumgänglich. Diese Modifizierung „von Menschenhand“ sei auch wegen der Urheberrechtsfragen unumgänglich, vor allem, wenn die Rechtmäßigkeit von Kunstwerken durch „illegal trainierte“ Modelle zunehmend infrage gestellt werde.

Die Zielrichtung Alexeevs ist jedoch klar: Die Auseinandersetzung mit computergenerierten Kunstwerken wird an Wichtigkeit und Relevanz zunehmen, analog zur Geschwindigkeit, mit der generative Modelle in den letzten Jahren entwickelt worden sind. Es ist ein komplexes hybrides Netzwerk von menschlichen und „nicht-menschlichen“ Akteuren entstanden, dessen Anwendungsdifferenzierung genauer in den Blick genommen werden muss. Im Zeitalter von Deep Learning müsse, so der Verfasser, das Verständnis der Werkzeuge, welche die kreative Mitarbeit ihrer Nutzerinnen und Nutzer erfordern, ständig neu justiert werden, denn KI sei „kein Werkzeug wie ein Bleistift oder eine Farbdose“. Wer mithilfe von Künstlicher Intelligenz längere Texte oder komplexe Bilder schaffen will, muss auch die richtigen Prompts erteilen und einer inzwischen überaus leistungsfähigen Technik die korrekten Sprachbefehle geben können. Objekte oder Textinhalte müssen exakt beschrieben werden, und Vorgaben zu Stil und Komposition sind unumgänglich, um eine komplexe Aufgabenstellung bewältigen zu können.

Bildenden Künstlerinnen und Künstlern, aber auch Schriftstellerinnen und Schriftstellern ist es aufgegeben, sich „auf gleicher Augenhöhe“ mit der KI zu bewegen, was Alexeev als „post-anthropozentrische“ Phase der Kreativität beschreibt. Hinzu kommt, dass KI-Programme bald auch komplexe Handlungen ausführen oder sogar sich selbst fortentwickeln können, auch „jenseits der Programmierung und berechenbarer Algorithmen“. Dafür gibt es schon jetzt zahlreiche Beispiele, einige werden von Alexeev dokumentiert:  Die amerikanische KI-Künstlerin Sasha Stilles verfasst mithilfe ihres von Maschinen gesteuerten Alter Ego Gedichte und visualisiert diese in ihrem Buch- und Ausstellungsprojekt Technelegy (unter Technelegy: https://www.sashastiles.com); die chinesisch-kanadische Künstlerin Sougwen Chung bemalt mit einem selbst geschaffenen Roboter in choreografischen Performances großflächige Leinwände (unter Performances: https://sougwen.com).

Das alles zeugt davon, dass auch wir als Konsumentinnen und Konsumenten den Aufbruch in ein Zeitalter der kreativen Zusammenarbeit von Mensch und Maschine miterleben. Vladimir Alexeevs Publikation begleitet diesen Prozess und liefert zahlreiche Anregungen, vor allem durch die vielen Bild- und Textbeispiele von KI-Kunst, denen man mithilfe der im Anhang beigefügten Internetadressen selbst nachgehen kann. Das kleine Werk von „Merzmensch“ Alexeev gibt bedenkenswerte Antworten auf die eingangs angesprochenen Fragen und kann deshalb als Lektüre zum Einstieg in die Beschäftigung mit Künstlicher Intelligenz besonders empfohlen werden. Auf der Seite www.digitale-bildkulturen.de findet sich weiteres Material des Autors.

Titelbild

Merzmensch: KI-Kunst. Digitale Bildkulturen.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2023.
80 Seiten , 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783803137357

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