Das Leben ist keine Soap-Opera

In Ludwig Steinherrs Novelle „Zweimal Rom“ verliert ein Schriftsteller den Boden unter den Füßen, als er mit seiner Vergangenheit konfrontiert wird

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf dem Literaturmarkt ist seit Langem der Roman die bevorzugte Gattung. Aber daneben kann sich auch die Novelle behaupten – denken wir an Gewittergäste von Dirk von Petersdorff (2022), Zu zweit von Simon Strauß (2023), die Novellen von Hartmut Lange –, obwohl man meinen könnte, die Gattung sei etwas angestaubt, weil die maßgeblichen Novellen-Definitionen aus dem 19. Jahrhundert stammen (Goethe, Storm, Paul Heyse). Bis heute reizvoll an dieser Erzählform ist vermutlich die Verpflichtung zur Knappheit und zur Konzentration auf ein zentrales Motiv, das alles zusammenhält. Dadurch erhält der Text „eine klare Silhouette“, wie Paul Heyse es nannte. Meist weist schon der Titel auf diese Silhouette hin, so auch bei Ludwig Steinherr.

Die Konzentration kann eine gewisse Atemlosigkeit zur Folge haben: Die Ereignisse überschlagen sich, die Spannung steigt, und zwar sowohl Spannung auf den Gang als auch auf den Ausgang (Brecht). Das geschieht in Zweimal Rom durch zahlreiche überraschende Wendungen, auch Zufälle, die die Absichten der beiden Hauptfiguren zunichtemachen. An die Verwendung des erzählerischen Präsens konnte ich mich nicht gewöhnen, da es mir, jedenfalls in diesem Fall, manieriert erscheint.

In einem seiner bekanntesten Essays beschäftigte sich der Philosoph Odo Marquard mit dem Zufall, den er gegen diejenigen verteidigt, die die Freiheit des Menschen verabsolutieren. In seiner Apologie des Zufälligen (1986) beruft er sich auf Aristoteles, der „das Zufällige gelten ließ als das, was weder unmöglich noch notwendig ist und darum auch nicht oder auch anders sein könnte“. Man kann es auch das „Kontingente“ nennen. Die Novelle Zweimal Rom des Lyrikers Ludwig Steinherr, der seit einiger Zeit auch Prosa schreibt, lässt sich als Geschichte über die Macht des Zufälligen lesen. „Wir kommen mehr als durch Wahl – also über Pläne – durch Zufälle durchs Leben und zu uns selber“ (Odo Marquard).

Ob Clemens, die Hauptfigur der Novelle, durch das, was ihm in Rom zufällig – oder schicksalhaft? – widerfährt, zu sich selbst kommt, bleibt am Ende offen. Beim Lesen muss man sich zunächst damit abfinden, dass immer wieder Dinge geschehen, die nicht geplant, nicht vorauszusehen und eigentlich höchst unwahrscheinlich sind. Clemens ist nach der Trennung von seiner langjährigen Partnerin nach Rom gereist, bewohnt dort ein Zimmer in einem Kloster und hat vor, sich durch die Stadt treiben zu lassen und zu sich selbst zu kommen.

Doch plötzlich steht beim Frühstück Christina hinter ihm, seine Jugendliebe, mit der er vor über zwanzig Jahren in dieser Stadt gewesen ist. Jetzt sind beide Mitte vierzig, aber – man kann es so ausdrücken: Es funkt sofort wieder zwischen ihnen. Als Clemens seine Ex-Geliebte sieht, fühlt er sich so stark an die frühverstorbene Regisseurin Karin Brandauer erinnert, dass er ihr zunächst den Namen Karin gibt. Später einigt er sich mit Christina auf den erstbesten Namen, der ihm gerade einfällt: Lena. Daraus entwickelt sich ein Verwirrspiel mit Identitäten. In manchen Situationen ist die Frau die heutige Lena, dann wieder ist sie für ihn die frühere Christina. Je näher sich die beiden bei ihren Spaziergängen durch Rom kommen, desto mehr wird aus der distanzierteren Lena wieder die vertraute Christina.

Das Distanzspiel ist eigentlich notwendig, denn Christina, heute als Richterin am Oberlandesgericht in Amt und Würden, ist verheiratet und hat zwei halbwüchsige Kinder. Sie erwartet ihre Familie bald in Rom; sie ist nur vorausgefahren, um eine Freundin zu treffen, die sie sonst selten sieht. Eine Wiederbelebung der Liebesbeziehung mit Clemens scheint sich, zumindest von ihrer Seite, zu verbieten. Aber auch er hat Hemmungen, in eine funktionierende Ehe und Familie einzubrechen.

Es ist ausgerechnet sie, die seine Vorbehalte nicht gelten lässt. Auf Taxifahrten wird sie immer anschmiegsamer und zärtlicher. Sie schlägt vor, dorthin zu fahren, wo sie einst gewesen sind und wo damals ihre Beziehung kriselte – die Rede ist von „Atomexplosionen“. Was genau damals so brisant war, erfährt man nicht. Aber es stellt sich die Frage, ob die beiden eine zweite Chance bekommen. Die Assoziation mit Max Frischs Theaterstück Biografie: ein Spiel (1967) liegt nahe: Wäre es möglich, wenn man einen zweiten Versuch hätte, Fehler zu vermeiden, die man in der Vergangenheit gemacht hat?

Frischs Antwort auf diese Frage lautete: nein. In Steinherrs Novelle entwickelt sich ein schicksalhaftes Spiel mit vielen unvorhersehbaren Ereignissen, die die Pläne vor allem Christinas durchkreuzen. Clemens, der zarte, sensible Schriftsteller mit dem sprechenden Namen, findet kaum zu entschlossener Handlungsfähigkeit. Er wird in ein Geschehen hineingezogen, das durch das mehr oder weniger zufällige Auftauchen weiterer Figuren für ihn immer unübersichtlicher und weniger beherrschbar wird. Darauf reagiert er schließlich physisch mit Schwindel und Übelkeit, und auch Christinas Zielstrebigkeit in seine Richtung wird auf eine harte Probe gestellt, während um sie herum lauter Intellektuelle sind, die im Unterschied zu Clemens völlig unbekümmert wirken, ‚mitten im Leben‘ stehen.

Am Ende stellt sich die Frage, ob es eine Geschichte über Zufälle oder vielmehr eine über Determination ist. Es kann aber auch beides zutreffen. Geschickt sendet der Autor Signale aus, die – noch einmal Odo Marquard – an die „Unvermeidlichkeit des Unverfügbaren“ erinnern: Clemens sieht ein junges Paar, das sich streitet und schließlich auseinanderläuft. Er nimmt die Szene als Muster für das wahr, was er einmal mit Christina erlebt hat. Muss sich alles wiederholen? Ein anderes Mal taucht im Restaurant ein Rosenverkäufer auf, wie damals, als er mit Christina zum ersten Mal in Rom war. Seinerzeit führte eine Rose, die er ihr schenken wollte, zur „Explosion“, jetzt kommt es bei gleicher Gelegenheit zur finalen Katastrophe.

Steinherr ist nicht nur Dichter, sondern auch promovierter Philosoph. Dieser Hintergrund wird bei der Lektüre seiner Novelle spürbar. Der Text regt zu vielen Fragen an, ohne sie zu beantworten, verlangt also eine produktive Lektüre. Durch das Spiel mit den Namen, Christina oder Lena, werden scheinbare Gewissheiten über Identität erschüttert. In einer Szene, die in Neros Palast, der Domus Aurea, spielt, wird die Grenze zwischen Wirklichkeit und virtueller Welt durchlässig. Eine VR-Brille macht die Welt der römischen Kaiserzeit sichtbar. Gleichzeitig spürt Clemens zärtliche Berührungen an seinem Hals und Küsse, die nur von Christina kommen können. Aber als er die Brille abnimmt, ist sie verschwunden. Zunehmend zweifelt er an der Verlässlichkeit seiner Wahrnehmungen.

Zweimal Rom kann man als Künstlernovelle lesen. Es gibt gewisse Parallelen zu Thomas Manns Der Tod in Venedig. Wie Gustav von Aschenbach verfällt Clemens in einer viel gerühmten italienischen Stadt rettungslos einer Liebe, durch die er sich selbst verliert. Wie Aschenbach hat er nicht die Kraft, einfach abzureisen. Clemens erkennt: „Ich bin zu feige, um etwas zu tun. Und ich bin zu schwach, um einfach zu gehen.“ Aber das Thema ‚Künstlertum‘ wird nicht ausgeführt, es bleibt letztlich blass. Clemens schreibt Gedichte und seit einiger Zeit auch Prosa, erfährt man, und gleicht darin dem Autor. Seine Robustheit und Vitalität wurde früher von Christina in Frage gestellt, aber heute scheint er ganz gut zu (über)leben: „Zum Beispiel dachte ich während unserer ganzen Beziehung, du wärst mit deiner lyrischen Tagträumerei absolut unfähig, in freier Wildbahn zu überleben – aber da sitzt du und lebst und schreibst immer noch voller Begeisterung.“

Gehört Clemens einer anderen Spezies Mensch an als die gebildeten, bestens alimentierten Beamten, von denen er umgeben ist und die sich Aperol Spritz und Rotwein genehmigen, während er auf der Toilette sein Elend durchdenkt? Eigentlich wünscht er sich nur ein Happy End: „Ja, darauf habe ich in den letzten Stunden insgeheim verzweifelt gehofft: auf die einfachste Lösung der Soap-Opera.“ Doch das Leben ist keine Soap-Opera.

Titelbild

Ludwig Steinherr: Zweimal Rom. Novelle.
Allitera Verlag, München 2023.
112 Seiten , 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783962334185

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