Das Schicksal einer deutsch-jüdischen Familie vor dem Hintergrund des beginnenden NS-Terrors
Mit dem bisher unveröffentlichten Roman „Die daheim blieben“ setzt der Wallstein Verlag die Georg Hermann-Edition fort
Von Manfred Orlick
Zum 150. Geburtstag des deutsch-jüdischen Schriftstellers Georg Hermann (eigentl. Georg Hermann Borchardt, 1871-1943) startete der Wallstein Verlag Ende 2021 eine Edition seiner Werke in Einzelbänden. Hermann war einer der meistgelesenen und produktivsten Autoren des frühen 20. Jahrhunderts, der als „jüdischer Fontane“ gefeiert wurde.
Den Auftakt der Edition machten Hermanns Debütroman Spielkinder (1896) und sein letzter veröffentlichter Roman Der etruskische Spiegel (1936 im niederländischen Exil). Während er in seinem Erstling auf das Berlin seiner Kindheit zurückblickte, erzählte Hermann in seinem Spätwerk das Schicksal eines jüdischen Architekten, der in die Emigration geht. Im Vorjahr folgten mit Jettchen Gebert (1906) und Henriette Jacoby (1908) seine bekanntesten und erfolgreichsten Romane, in denen Hermann das Berliner Biedermeier wieder zum Leben erweckte. Weit über die lokale Bindung an Berlin verfasste Hermann jedoch Zeitromane, Essays und Kommentare, in denen er neben der Darstellung der jüdisch-deutschen bürgerlichen Kultur auch die politischen Entwicklungen kritisch beleuchtete.
Nun wird die Edition durch den bisher unveröffentlichten Roman Die daheim blieben fortgesetzt. Aus Briefen an seine Tochter Hilde war bekannt, dass Hermann in seinem niederländischen Exil an einem letzten großen, vierteilig angelegten Roman arbeitete. Abgesehen von einem 36-seitigen Typoskript im Archiv des Leo Baeck Institute New York galt das Manuskript als verschollen. Den übrig gebliebenen Nachlass Hermanns, der im November 1943 in den Gaskammern von Auschwitz umgebracht wurde, hatten die Nachkommen zunächst dem Londoner Leo Baeck Institute übergeben, ehe er später nach New York überführt wurde. Doch ein kleiner Teil des Nachlasses befand sich weiterhin in der Hand von Hermanns Enkel George Rothschild. So glich es fast einem Wunder, dass der Herausgeberin Godela Weiss-Sussex während einer Tagung im September 2001 an der Universität London von Rothschild und John Craig-Sharples, Hermanns Urenkel, eine Aktentasche mit Typoskriptseiten und Notizblättern überreicht wurde. In diesem Schatz fanden sich tatsächlich die ersten beiden Teile des Romans sowie etliche Fragmente und Notizen, die Aufschluss über den dritten und vierten Teil des Romanprojektes erlaubten.
Hermann hatte die Romanhandlung an einschneidenden historischen Ereignissen der 1930er Jahre festgemacht. Der erste Teil des ersten Bandes Max und Dolly spielt an einem Sonntag im März 1933 im Hause des jüdischen Papiergroßhändlers Heinrich Simon. Hier im Berliner Tiergartenviertel ist die assimilierte, gutbürgerliche Familie zusammengekommen, um das 75. Firmenjubiläum und den 40. Hochzeitstag von Heinrich und Agnes Simon zu feiern. Die Feier ist eine öffentliche Angelegenheit und dementsprechend lang ist die Liste der Gäste, die sich in den Salons vergnügen.
Während man hier ausgelassen feiert, diskutiert ein kleiner Familienkreis in einem hinteren Salon die politische Situation. Die Zeiten haben sich geändert. Vor ein paar Tagen brannte der Reichstag, immer öfter marschieren SA-Trupps grölend durch die Straßen Berlins und Gerüchte über Hausdurchsuchungen und Verhaftungen machen die Runde. Und dazu die zunehmende Judenfeindlichkeit in weiten Teilen der Bevölkerung: „Jeder, der ein braunes Hemd angezogen hat, glaubt nun, mir ins Gesicht spucken zu können!“ Auch die geschäftliche Lage der Firma ist längst nicht mehr so rosig; die ersten Großkunden haben sich bereits zurückgezogen. Und so rückt auch das Für und Wider einer Emigration in den Mittelpunkt. Zwar vertreten die einzelnen Familienmitglieder unterschiedliche Meinungen, aber dennoch ist man zuversichtlich: „Ach, das ist doch übertrieben. Es ist woanders auch nicht besser!“ […] „Das sind nur ein paar ungebildete Schreihälse.“ […] „Also zu Pogromen kann es doch Gottlob hier nicht kommen! Das ist unmöglich! Dafür sind wir doch immer noch in Deutschland!“
Im zweiten Teil mit dem Titel Ilse und Liese (die Töchter von Heinrich und Agnes), dessen Handlung sich über den Nachmittag und Abend des 15. Septembers 1935 erstreckt, ist diese Zuversicht längst gewichen. Es ist der Tag, an dem die „Nürnberger Gesetze“ erlassen wurden, die die Legitimationsgrundlage für die Diskriminierung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung bildeten. Jetzt geht es eher darum, die schlechten Nachrichten zu verheimlichen. Der früher so selbstbewusste Geschäftsmann Heinrich Simon ist verunsichert. Wie ein „wilder Eber“ hat er um seine jüdischen Mitarbeiter gekämpft, alles eingearbeitete Leute; doch er wurde gezwungen, sie durch arische Angestellte zu ersetzen. Noch läuft der Laden, aber die Emigration, die er vor zwei Jahren noch vehement abgelehnt hatte, spielt nun eine immer größere Rolle in seinen Gedanken. In seinem Verwandten- und Freundeskreis fragt man sich längst: „Was bleibt uns denn hier noch?“ Sein Bruder und viele der jungen jüdischen Generation haben die Frage mit einer Emigration ins Ausland bereits beantwortet und so wird der Kreis der familiären Zusammenkünfte immer kleiner.
Überhaupt ist vieles anders geworden. Lebensunsicherheit beherrscht den Alltag. „Man steht immer mit einem Fuß im Zuchthaus und mit beiden im KZ.“ Was hilft es da, wenn man sich einredet, aus einer anständigen Familie zu kommen, die sich seit fast zweihundertfünfzig Jahren in Berlin nichts zu Schulden hat kommen lassen. Nun ist man ein „rassenfremder Parasit, der sich am deutschen Volksvermögen mästet“.
Im dritten, fragmentarischen Teil Georg, der Doctor wechselte Hermann mit Florenz den Schauplatz des Romans. Zunächst beschreibt er fast sinnenfroh die Sehenswürdigkeiten der Stadt und die Schönheit der toskanischen Landschaft zu den unterschiedlichen Jahreszeiten. Doch danach kommt er ziemlich abrupt auf das Emigrantenleben nach den Rassengesetzen der italienischen Regierung zu sprechen. Die Titelfigur taucht hier noch nicht auf, dafür andere jüdische Emigranten, auch Protagonisten aus den ersten beiden Romanteilen, wo die Thematik des Faschismus in Italien auch schon gelegentlich erörtert wurde.
Der geplante vierte Teil, betitelt mit Heinrich und Agnes, sollte wieder in Berlin spielen und die beiden einzigen Familienmitglieder, die hier noch geblieben sind, in den Mittelpunkt rücken. Statt jahrzehntelanger Familienzusammengehörigkeit herrscht nun Einsamkeit. Die Alten sind den politischen Ereignissen hilflos ausgeliefert. Als die Judenverfolgung mit den Novemberpogromen 1938 einen neuen Höhepunkt erreicht, stirbt Heinrich an Herzversagen und Agnes nimmt sich daraufhin das Leben. Zu spät trifft das Schreiben ihrer Tochter Ilse aus Amerika mit den Schiffskarten für eine Überfahrt ein.
Neben den beiden vollständigen Romanteilen und dem dritten, fragmentarischen Teil (45 Seiten) wird die Neuerscheinung durch ein umfangreiches Nachwort ergänzt, in dem die Herausgeberin neben der Odyssee des Manuskriptes auch die Anlage des Romanprojekts, die Textüberlieferung sowie die Besonderheiten der einzelnen Romanteile ausführlich beleuchtet.
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