Hochamt im Stadion

Über die Dramaturgie der Trauerfeier für Franz Beckenbauer

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler und Stefanie von WietersheimRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie von Wietersheim

Rätsel des Lebens. Wie – um Himmels willen! – konnte es passieren, dass ein deutsches Fußballstadion zur Kathedrale wurde -– wenn auch ohne Weihrauch? In der sich beim Tod eines Kaisers die Spitzen der demokratischen Gesellschaft samt demütigem Fußvolk versammelten – so wie Jahrhunderte lang bei Staatsbegräbnissen in der Kathedrale von St. Denis, dem Dom in Aachen oder der Londoner Westminster Abbey? Also: Warum schillerte die Trauerfeier für den verstorbenen Fußballspieler Franz Beckenbauer zwischen christlichem Hochamt, italienischer Freiluftoper und Public Love Viewing? Es war wohl nur in München möglich, in dem nach einer Versicherung benannten Arena, dass weltliche, religiöse und politische Elemente mit FIFA-Wumms, Münchner „Mia san Mia“-Patriotismus und der perfekten FC-Bayern-Geldmaschine fusionierten. Sicher ist: Zur Trauerfeier für Franz Beckenbauer am 22. Januar 2024 wurde von den Veranstaltern eine Liturgie mit pseudo-religiösen Riten über katholischer Grundierung geschaffen, die ästhetisch erstaunlich war. Umso rätselhafter erscheint es uns, dass sich das gebildete Feuilleton damit bislang nicht beschäftigt hat. Wir holen dies hier nach.

Der Fußballer und seine Post-Mortem-Feier

Am 7. Januar 2024 war der Berufs-Fußballer Beckenbauer im Alter von 78 Jahren gestorben. Was machte ihn so legendär? Die Leichtigkeit und Eleganz seines Spiels, seine Freundlichkeit auch „ganz normalen“ Menschen gegenüber, seine Herzlichkeit und die Werte, die er vertrat. Zumindest so lange, bis man ihm im Zuge der Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaft an Deutschland unsaubere Geschäfte vorwarf. Der „Schatten“ über seinem Lebenswerk sollte nicht mehr weichen. Beckenbauer wird für immer mit einer Dreifaltigkeit des internationalen Fußballspiels verbunden sein: 1974 selber als Weltmeister mitgespielt und gewonnen, 1990 als Trainer der deutschen Nationalmannschaft die Weltmeisterschaft in Italien gewonnen und 2006 die Weltmeisterschaft nach Deutschland geholt.

Unter dem Motto „Danke Franz – Spieler Kaiser Mensch“ fand nun im Januar 2024 in der Münchner Allianz-Arena eine säkulare Messe statt, die aus in die Jahre gekommenen Fußballstars Ministranten mit roten Rosen machte, aus dem einen Tor einen Tabernakel, aus den leeren Rängen hinter dem verwaisten Tor mit dem Emblem des FC Bayern München den Hochaltar. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Ministerpräsident Markus Söder hatten als Konzelebranten ihre verbal weihrauchschwenkenden Auftritte. Die Predigt hielt Ulrich („Uli“) Hoeneß, das Schlussgebet und der Segen kamen vom Erzbischof von München und Freising, Reinhard Kardinal Marx, hoch selbst. Es war, so muss man auf gut Bayerisch sagen, „a schene Leich“.

„Player Kaiser Human“

Ausgesprochen leise Töne waren nicht zu hören gewesen, konnten es aber auch nicht sein – denn Fußball kommt für viele Deutsche weit vor Innen- und Außenpolitik. Die Trauergemeinde war groß, das Stadion war gut gefüllt mit Menschen aller Altersklassen und sozialer Schichten, sie hatten sich mit den Fan-Artikeln des erfolgreichen Merchandising des FCB dekoriert. Aber es waren nicht nur die „ganz normalen Leute“, die die Ränge bei freiem Eintritt füllten, es kamen nicht nur die Granden aus der Sportszene in das Münchner Stadion, sondern sogar die Repräsentanten der obersten politischen Führung der Bundesrepublik Deutschland: Bundespräsident Frank Walter Steinmeier, Bundeskanzler Olaf Scholz und Ministerpräsident Markus Söder. Nur Steinmeier und Söder hielten Reden; das Gerücht hält sich, man wollte verhindern, dass Scholz ausgebuht wird, darum blieb er stumm. Er saß fast durchgehend sehr allein auf seinem Platz, grimmig und irgendwie verkniffen um sich blickend, während Hoeneß, Steinmeier und Söder sich blendend unterhielten, bevor es feierlich wurde.

Was dann kam, war eines Opernregisseurs würdig. Wir sind fest davon überzeugt, dass die PR-Mannschaft des FC Bayern katholisch sozialisiert sein muss, denn man sah die copy-and-paste-Version eines feierlichen katholischen Hochamtes. Es begann mit dem Einzug der Trauergemeinde und dem Aufsuchen der Plätze. Dann wurde es still. Ein Moderator, Stephan Lehmann, der Stadionsprecher, führte durch das Geschehen („Um unseren Kaiser zu verabschieden“) und eröffnete die Veranstaltung mit einem „Herzlichen Grüß Gott“. Alle Super-Ehrengäste nannte er bei Namen, den anwesenden Kardinal erwähnte er nicht.

Zu Beginn dieses Staatsbegräbnisses würdigen elf enge Weggefährten – „Die Heroen des Deutschen Fußballs vereint im Andenken“ – den Verstorbenen. Behutsam steigen sie die Treppen hinab, schreiten über den Rasen und legen in der Mitte ihre Sträuße mit jeweils fünf roten Rosen nieder, auf der ein großes schwarz-weißes Porträt des Verstorbenen liegt, mit der 5 auf dem Trikot. Alle im Stadion erheben sich von ihren Plätzen. Dazu singt der Startenor Jonas Kaufmann die italienische Version von „Time to say Goodbye“: „Con te partiro“. Die älteren Herren schauen feierlich, der 40jährige Sebastian Schweinsteiger sticht durch seine Jugendlichkeit hervor. Paul Breitner schaut grimmig. Vor dem einen Fußballtor ist eine riesige 5 aus Rosen aufgebaut, dahinter auf dem Rang das gigantische Logo des FCB auf den freien Sitzen, darunter die Bühne, auf der die Redner unter dem Tabernakel einander abwechseln. Sie alle stehen neben einem gigantischen Kranz aus roten Rosen. Fahnen werden niedergelegt, Fahnen werden gehoben. Nach der katholischen Messe dient das Militär als Regie-Vorgabe. Wer hat das alles so perfekt geplant? Gibt es eine eigene Event-Agency für solche Feiern?

Der Grußrede des derzeitigen Präsidenten des FCB, Herbert Hainer, folgt eine sich allmählich steigernde Kaskade von Reden. Jonas Kaufmann singt „Nessun Dorma“, das Orchester und der Chor werden unterlegt. Erste Tränen sieht man in den Gesichtern Vieler, Taschentücher kommen zum Einsatz. Der Bundespräsident ist davon überzeugt, dass die Fußballmannschaft der Engel im Himmel nun eine bayerische Stimme hört, die zu ihnen sagt: „Geht raus, spielt Fußball!“ Auch dem demokratischen Staatsoberhaupt wird „die Stimme des Kaisers fehlen“. Haben die Deutschen doch monarchische Phantomschmerzen?

Dann kommt eine perfekt gemachte Video-Einspielung des Lebensweges des zweiten Sohns des Postbeamten Franz Beckenbauer aus München-Obergiesing, der zum Weltstar des internationalen Fußballs wurde. Der Werbespot „Kraft in den Teller, Knorr auf den Tisch“ erzeugt ein kollektives Schmunzeln im Stadion. Alle erheben sich erneut von ihren Plätzen: Rührung hat die Menschen erfasst. Joschka Fischer schaut betrübt. Der Ministerpräsident des Freistaats Bayern, Dr. Markus Söder, beginnt mit „Franz Beckenbauer ist tot. War das für Sie auch so ein Schock?“ Das fragt der CSU-Politiker zu Beginn und flicht Erinnerungen an seinen fußballbegeisterten Vater ein: „Jeder von uns verbindet die Geschichte von Franz Beckenbauer mit persönlichen Erinnerungen. Die Geschichte des FC Bayern und die von Franz Beckenbauer sind untrennbar verbunden.“ Söder würdigt den „Fußballgott“ Beckenbauer als „einen der allergrößten Bayern“. „Vergelts Gott, Franz Beckenbauer.“ Wie der Bundespräsident liest auch der Landesfürst seine Rede vom Blatt ab. „Gott schütze Franz Beckenbauer!“ Wieder stehen die Menschen auf.

Die eigentliche Predigt wurde vom Ehrenpräsidenten des FCB gehalten: Uli Hoeneß spricht vollkommen frei und bringt die Menschen zum Lachen, Applaudieren und Toben! „Liebe Heidi, liebe Familie von Franz Beckenbauer…“, so beginnt eine grandiose Abschiedsrede an den Freund. „Wenn man ein Problem hatte, ging man zum Franz.“ Und seine Erinnerungen an die WM 2006 enden mit dem Appell, dass er wünscht, dass „wir“ dahin kommen, dass „wir alle wieder stolz auf unser Land, auf Deutschland“ sind. Aber, so fügte er an: „Ich möchte dabei betonen, dass ich bei diesem Prozess die AfD nicht dabeihaben möchte!“ Das Stadion applaudiert heftig. Wieder stehen die Menschen auf.

Das Hochamt geht zu Ende. Der Kardinal sagt: „Wer stirbt, geht nicht weg, er geht mit uns.“ Nach dem Dankgebet für das Geschenk Franz Beckenbauer an die Menschheit und den „herzlichen Grüßen von Papst Franziskus („im Geist verbunden“) folgt der Segen an alle im Stadion. Viele bekreuzigen sich. Jonas Kaufmann singt „E più to penso.“ Wir fragten uns, warum sich unter dem Emblem im Zentrum der Arena keine Grabstätte öffnete. Und man den Sarg sich nicht absenken sah.

„Ruhe in Frieden, Kaiser“, rief ihm auch der Kardinal nach. Die Menschen stehen ratlos im Fußballstadium herum. Natürlich erklingt hier keine Orgelmusik, die beim Übergang vom überweltlichen zum weltlichen Lebensraum in der Trauer hilft. Man sieht das Gedrängel der VIPs um die eine Witwe, Heidi Beckenbauer, und zwei der späteren Kinder des Verstorbenen. Wo waren die beiden Vorgängerinnen? Wo waren die anderen zwei Kinder, die noch leben?

Parlament und Stadion: Von der Macht der Inszenierung eines Todes

Ein Münchner Kindl, das zum Weltbürger wurde, ist somit in der Allianz-Arena am stimmigen Ort verabschiedet worden. Zwei Tage danach, am 24. Januar 2024, hielt der französische Präsident Emmanuel Macron im Deutschen Bundestag eine Rede auf den verstorbenen CDU-Politiker Wolfgang Schäuble, der die Geschicke des Landes als Parlamentarier, Minister und Staatsmann über fünf Jahrzehnte mit gelenkt hatte. Seine Wirkungsstätte – das Parlament – war der Rahmen für diese Trauerfeier. Beckenbauers Arbeitsplatz war das Stadion. Insofern war es nur konsequent, dass man ihm dort Ehre erwies. Zudem war es eine gigantische PR-Veranstaltung für den Konzern der Allianz AG und den FC Bayern. Dass Fußball-Stadien die modernen Kathedralen sind, zeigte der deutsche Fotograf Michael von Hassel in seinem im Herbst 2023 erschienenen Bildband „Bundesliga Kathedralen“ aus dem Callwey-Verlag. Die leeren Fußballtempel erscheinen bei ihm hyperrealistisch, fast außerweltlich. Dass sie Orte sind, an denen Fans ihre Liebe zum Fußball zum Ausdruck bringen können, erschließt sich erst, wenn Menschen in den Rängen sitzen und ihre Helden die Kränze ihrer Klubs ablegen.

Das Requiem für Franz lässt uns nachdenken über die Trauerfeier für die im Jahr zuvor verstorbene britische Queen Elisabeth II. Zeigte der glänzend inszenierte Abschied vom deutschen Fußball-Kaiser Franz, dass wir doch (noch?) eine offene Gesellschaft sind, eine Gesellschaft, in der eine sportliche Meritokratie ihre Erfolge feiern und ihre Geschichten von „Rags to Riches“ erzählen kann: Von Giesing zum Times Square? Wo im Jahr 2023 die britische Gesellschaft zeigte, wie sie den Lebensweg einer Ausnahmepersönlichkeit mit hoch kultivierten, alten Ritualen ehrte, war die Münchner Stadionfeier unter dem Motto „Danke Franz“ eine vollkommen neu konstruierte, demokratische Veranstaltung, die sich aus den Inszenierungskisten von Kirche, Sport und Open-Air-Festivals bediente. Vergleichbar in diesem neuen Stil mit der Person einer Helene Fischer, die verschiedene Generationen und ganz unterschiedliche Deutsche bei ihren Konzerten zusammenbringt – eine Identifikationsfigur, Symbol für Erfolg und Bestleistung in ihrer Branche.

Fußball als Kaiser-Sportart

Warum nun gerade der Tod eines Fußballspielers eine solche Show war? Es stellt sich dabei die soziologische Frage, wieso gerade diese Sportart so populär ist, dass selbst ein Bundespräsident und ein Bundeskanzler ihr Interesse daran zeigen müssen, zumindest im Gespräch mit Funktionären dieses milliardenschweren Wirtschaftszweiges. Wieso ist ausgerechnet Fußball die beliebteste und am weitesten verbreitete Sportart weltweit? In Europa, Südamerika und Afrika, aber auch in Teilen Asiens dominiert Fußball die Sportberichterstattung. Die allmähliche Verbreitung des Frauenfußballs hat die globale Beliebtheit noch erhöht. Sechseinhalb Millionen Deutsche – über acht Prozent der Bevölkerung – sind Mitglied in einem der 27.000 Fußballvereine Deutschlands. Laut Angaben des Weltfußballverbandes Fifa spielen über 240 Millionen Menschen in über 200 Ländern in allen Teilen der Welt Fußball. 207 Länder und autonome Regionen sind Mitglieder der Fifa.

Die einigermaßen schlichten Grundregeln und die bescheidene Ausrüstung, die zur Ausübung dieses Sports notwendig sind, trugen dazu bei, das Spiel bei Aktiven – von Hobbykickern bis zur professionellen Weltelite – beliebt zu machen. Damit können Golf, American Football, Basketball, Turnen oder Eishockey nicht mithalten.

Wären es jedoch allein die aktiv Spielenden, die sich für ihre Sportart interessierten, hielte sich die wirtschaftliche, politische, gesellschaftliche und kulturelle Aufmerksamkeit für die bevorstehende Europameisterschaft in überschaubaren Grenzen. Es sind jedoch gerade die Massen derer, die vor den Bildschirmen in der ganzen Welt den dribbelnden und köpfenden Gladiatoren zusehen.

Von dieser Sportart geht für viele eine ganz eigene Magie schon durch das körperlich Kämpferische aus, das jedoch durch immer ausgefeiltere Regeln im Laufe der vergangenen 500 Jahre zunehmend eleganter und zivilisierter gezähmt wurde, wie es der soziologische Klassiker Norbert Elias so eindrücklich nachgezeichnet hat. Vor allem jedoch die Möglichkeit der Projektion nationaler Leidenschaften auf Mannschaften aus der ganzen Welt ist es, welche die Massen in religiöse Wallungen versetzt. Werden wir wieder vernunftbegabte und wahlberechtigte Staatsbürger sehen, die sich bei der anstehenden Europameisterschaft in die Deutschlandfahne wickeln und in wellenartiger Formation Stadien mit über 60.000 Menschen zum Toben bringen? Wem bei diesem Gedanken unbehaglich wird, wird komplette vier Wochen lang sehr tapfer sein müssen. Wir schauen uns derweil lieber den Bildband „Bundesliga Kathedralen“ mit den Fotografien von Michael von Hassel an und überlegen, wie sich wohl Kardinal Marx gefühlt haben muss, dort Zelebrant gewesen zu sein. Wir rufen ihn vielleicht mal an und laden ihn zu einem Interview ein.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zur monatlich erscheinenden Kolumne „Rätsel des Lebens“ von Dirk Kaesler und Stefanie von Wietersheim.