Geistige Sprachlosigkeit

Tatiana Yudinas Perspektive auf das Verhältnis Russlands zu Europa

Von Monika WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Autorin, eine ehemalige Professorin für Germanistik an der Lomonossow-Universität in Moskau, erlangte Bekanntheit durch ihre wissenschaftlichen Abhandlungen zu den Beziehungen zwischen russischer und deutscher Kultur, Literatur und Sprache. Derzeit ist sie als freischaffende Autorin und Wissenschaftlerin tätig. Im Jahr 2024 veröffentlichte der Frank & Timme Verlag einen schmalen, dennoch bedeutenden Band mit ihrem Essay Dogma oder Diskurs – Russland verstehen oder an Russland glauben?. Der Titel wirft für die Leser:innen die Frage auf, ob das vorhandene Wissen über Russland als fester Glaubensgrundsatz (Dogma) akzeptiert oder ob stattdessen ein diskursiver Ansatz gewählt werden soll, der Raum für differenzierte und kritische Betrachtungen ermöglicht.

Auf die Frage, warum Tatiana Yudina den Band verfasst hat, gibt sie an:

Der Anfang war rein emotional und stand in Verbindung mit einer beruflichen Notwendigkeit, die aktuellen Geschehnisse wahrzunehmen, zu verarbeiten und innerlich emotional damit umzugehen. Der Beginn erfolgte sehr spontan. Erst danach begann die tiefe wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema.

Der Band startet mit einer Skizze zur Vergangenheit Russlands, und in den folgenden Kapiteln verarbeitet die Autorin auch neuere Themen und Ereignisse. Dabei reagiert sie zunehmend auf aktuelle Geschehnisse im russischen Kulturleben. Der Band versucht, die vielen Fragen zu beantworten, die selbst gut informierte Russlandkenner in Deutschland beschäftigen, etwa: „Was haben wir falsch verstanden?“, „Wurden wir hinters Licht geführt?“, „Was denken die in Russland gebliebenen Russen über den Krieg?“ (S. 7).

Yudina sucht nach Antworten darauf, wie die Realität besser zu verstehen ist, sei es durch die Auseinandersetzung mit literarischen Texten, die Interpretation kultureller Ereignisse oder die Deutung kulturpolitischer Handlungen. Diese Schwerpunkte bilden das Gerüst für das Narrativ des Bandes.

Eine entscheidende Erkenntnis teilt sie bereits auf den ersten Seiten den Leser:innen mit. Sie beobachtet in Russland einen Paradigmenwechsel, der von vielen unbemerkt geblieben ist. Sie schreibt:

Das während der späten Sowjetunion und insbesondere während der Perestroika gewonnene Bild von Russland ist einem neuen, genauer gesagt, einem alten und wiederaufgelebten – Gesicht von Russland gewichen, das schmerzlich zu akzeptieren ist. Das Ausland hat lange Zeit, vielleicht zu lange, auf Russland geschaut und dabei versucht, das vertraute sowjetische Gesicht im gegenwärtigen Russland wiederzufinden. Erst in diesen Wochen und Monaten wird erkannt, dass die Sowjetunion tatsächlich verschwunden ist und ein anderes Land, nämlich Russland, zurückgekehrt ist. Und das ist ein anderes Land!

Im weiteren Verlauf geht die Autorin ausführlicher auf die Folgen dieses Wechsels für die Gesellschaft, für die Generationen und für jede/n Einzelne/n ein. Dabei kommt sie zu einem beunruhigenden Ergebnis: „Infolge dieser verschiedenen Umbrüche wird immer wieder nach der eigenen Identität gesucht.“ Die Tatsache wird noch problematischer, wenn die Identität von oben vorgeschrieben wird und von der Bevölkerung ohne Reflexion akzeptiert und angenommen wird. Auf diese Weise können eigene Orientierungen und Überzeugungen an Schärfe verlieren und irrelevant werden.

Das zweite Kapitel des Bandes, unter der Überschrift „Archetypische Motive in der russischen Literatur: Protest und Flucht“ eröffnet eine spannende Abhandlung zur Verwendung dieses Motivs von Puschkin und Dostojewski. Dabei merkt Yudina an, dass der Protest und die Flucht fast ausnahmslos zur Selbstzerstörung und zu einem totalen Rückzug aus der Gesellschaft führen. Sie erwähnt dabei das sehr in der russischen Literatur populäre Motiv des Kartenspielers, das einen Nährboden für alles Fatalistische, Irrationale wie auch für obskure Verschwörungstheorien und Konspirationsängste bietet. Gegenwärtig ist es zu einem Mittel der russischen Propaganda geworden. Sie berichtet: „Unsolide Spekulationen und Mythenbildung statt belegbarer oder dokumentenbezogener Analyse der Geschichtsereignisse bekommen durch Print – und digitale Medien eine massenhafte Verbreitung.“

Im weiteren Verlauf der Abhandlung geht Yudina verstärkt auf aktuelle Ereignisse ein. Sie bemängelt das gegenwärtige Fehlen öffentlicher Debatten zu gesellschaftlich relevanten Themen, während in den 90er Jahren noch überall, sowohl im Parlament als auch auf der Straße heftig debattiert wurde. Allerdings finden sich in der russischen Geschichte nur kurzweilige Perioden, zu deren Charakteristik auch eine gewisse Streitkultur gehört. Yudina ist der Auffassung, dass die Kulturtechniken einer Diskussion „des Streitgesprächs, der Artikulation und argumentativen Einwicklung des eigenen Streitpunktes“ in Russland „nicht oder allenfalls nur unvollkommen entwickelt“ wurden. „Daraus resultierte ein Klima der geistigen Sprachlosigkeit.“ Yudina stützt sich bei ihren Feststellungen auf historische und religiöse Forschungen und argumentiert stets aus einem tief verstandenen humanistischen Standpunkt. Sie ist bemüht, auch die gegenwärtigen Herausforderungen für die Gesellschaft zu benennen, wie beispielsweise das Ringen um die Deutung der Vergangenheit. Ihrer Meinung nach ist die russische Gesellschaft nicht in der Lage, ihre Vergangenheit, insbesondere die jüngste, zu bewerten und in Kontexte einzubauen.

Trotzdem betont die Autorin nachdrücklich eine starke kulturelle Zugehörigkeit Russlands zum europäischen Kulturkreis und zum europäischen Gedankengut. „Der Versuch, Russland vom europäischen Kultur- und Gedankengut abzuschotten, scheint absolut illusorisch zu sein, […]. Europäische Wurzeln und Komponenten haben die gesamte russische Alltagskultur mit ihren landesspezifischen Elementen durchdrungen, ohne dass man sich dessen immer bewusst ist“, schreibt sie. Diese kulturelle Verschmelzung bildet eine solide Grundlage für die Hoffnung auf Verständigung. Die von der Autorin betonte Bedeutung von Texten und kulturellen Erzeugnissen besteht darin, dass sie sich nicht vereinnahmen lassen; sie bleiben über Jahrhunderte hinweg in unveränderter Form bestehen und bieten somit kontinuierlich eine solide Basis für Gespräche und den Austausch zwischen Kulturen.

In ihrem fesselnden Werk Dogma oder Diskurs – Russland verstehen oder an Russland glauben? entfaltet Tatiana Yudina einen vielschichtigen Blick auf die gegenwärtigen Herausforderungen in Russland und zeigt dabei auf, wie sich historische Paradigmen und gesellschaftliche Strömungen verändert haben. Die Autorin liefert nicht nur tiefgreifende Analysen zur kulturellen Identität Russlands und dessen Verhältnis zum europäischen Gedankengut, sondern betont auch die Rolle von Texten und kulturellen Erzeugnissen als Basis für einen interkulturellen Dialog. Ihre klare humanistische Perspektive und ihr tiefes Verständnis für Geschichte und Kultur machen dieses Buch zu einer bedeutenden Reflexion über die gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen in Russland und den Möglichkeiten des interkulturellen Verständnisses.

Titelbild

Tatiana Yudina: Dogma oder Diskurs – Russland verstehen oder an Russland glauben?
Frank & Timme Verlag, Berlin 2024.
60 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783732910489

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