Träume, Wandlungen und Verwandlungen

Angela Krauß schlendert in „Das Weltgebäude muß errichtet werden“ ins Offene hinaus

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Überraschende Perspektiven entwickeln sich nicht von selbst, manchmal sind sie einfach da und stehen, als außerordentliche Phänomene, mitten im Raum der Sprache. Eine traumhafte Begegnung mit der guten Fee, von der gemeinhin berichtet wird, dass sie drei Wünsche erfüllt, kann enttäuschend und doch heiter enden, wenn sie plötzlich wieder entschwindet: „Sie sagte, ich habe einen Wunsch frei. Nicht drei? fragte ich benommen. Zu spät, antwortete sie.“ Wer sich einfach, bloß „benommen“ eben, nicht mit einem Wunsch begnügen möchte, der muss akzeptieren, dass die gute Fee wieder rasch entschwindet. In der Prosa bleibt die Fee ein Traumgespinst, die Nacht dauert fort, „ungestört“. Doch nachdenklich dürfen alle Leserinnen und Leser bleiben: Wäre der Traum Wirklichkeit, wie antworteten wir? Welcher Wunsch sollte erfüllt werden? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, möglicherweise träumerisch, niemals aber bleischwer.

Dann beginnt für das erzählende Ich dieser prosaischen Fantasie ein Tag, der sich merkwürdig anfühlt, „nichtssagend auf königliche Weise“, beglückend ereignislos vielleicht? Vom „Gedankengepäck“ befreit, traumhaft erleichtert, höchstens mit einem „Schwindelgefühl“ versehen, schreibt die Erzählerin:

Ich leide nicht an Schlafstörungen, ich schlafe tief, bewußtlos, ich könnte mir nirgendwohin folgen, wenn ich es am Morgen versuchen würde. Wie die meisten Menschen denke ich nicht darüber nach, das nennt sich ein gesunder Schlaf. Diese Bewußtlosigkeit. Die Träume, die schönsten Rätsel unserer Existenz, müssen dort wohnen. Irgendwo im Nirgendwo, wo wir nie waren und doch allnächtlich hineingeraten.

Die Traumlandschaften können nicht willentlich erkundet werden, sie sind einfach da, ein besonderer Ort der Rätsel, Wandlung und Verwandlungen, zu denen Psychoanalytiker Theorien bilden können, die aber nichts erhellen oder nicht genug. Traumbilder werden dann seziert, zerlegt, eingeordnet. Wem das genügt, der versteht nicht, was in den Nächten uns an Wahrnehmungen geschenkt ist: „Das Mögliche ist grenzenlos, beweglich, lebendig und zieht in die Zukunft. Ich schaue also regelmäßig aufwärts in die Nacht, um mich meiner Grenzenlosigkeit zu versichern. Eine kleine Handlung mit großem Effekt. Gleich wähne ich mich gehalten, es überfällt mich eine gewisse Keckheit.“

Dann kehrt die Fee wieder, ganz unerwartet, unverhofft, desillusionierend. Diesmal bietet sie drei Möglichkeiten an. Sind es Hoffnungen, Träume, Wünsche, um „glücklich zu sein“? Ernüchterungen bleiben, ja, drei Möglichkeiten, aber nicht einfach nur, um „zu sterben, sagte die Fee“. In solchen Augenblicken kann das Aufwachsen dann erlösend sein. Es war eben doch nur ein Traum – oder mehr? Momente der Erkenntnisse stellen sich ein, besonderer Einsichten, die vielleicht auch Ansichten, Ansichtssache sind, Gedankenspiele und Spielereien:

Auch wenn noch früh am Tag, viel Zeit ist nicht. Die Tage vergehen immer schneller. Im Wochen- und Monatsverbund fliegen sie mit der Windigkeit, mit der jemand hundert Seiten eines Buches blätternd unter dem Daumen wegspringen läßt. Wie wenn man sich einen Eindruck dieses Buches verschaffen will, ohne einen Satz darin zu lesen. Es ist mehr ein Berührungseindruck; manchmal riecht man verstohlen daran, so man nicht schon aus den auffliegenden Seiten den Duft aufgenommen hat, was in jeder Buchhandlung diskret geschehen kann.

Die Zeit, so Angela Krauß, beginne zu fliegen, nur der Raum sei solide gebaut. Die „Daseinsentfaltung“ bleibt ein Mysterium. Die Zeit lässt sich messen, aber zugleich ist sie so rätselhaft wie alle „neuronalen Wege“, auf denen Menschen unterwegs sind, unterwegs sein müssen. Von Daseinsentfaltungen, „Daseinsverwandlungen“ schreibt die Autorin, auf eine Weise, in der Möglichkeit und Wirklichkeit, Vergangenheit und Zukunft miteinander verwebt zu sein scheinen. Hoffnungsschimmer treten auf: „Möglicherweise ist die Zukunft längst still und leise entstanden. Aus lauter winzigem Glück, das wir übersehen oder längst vergessen haben.“

Nun dürfen wir uns fragen: Sind die Wünsche, die die gute Fee zu erfüllen versprach, eine nächtliche Imagination oder längst Wirklichkeit geworden? Vielleicht wird all dies nur einfach nicht bemerkt, nicht wahrgenommen, nicht erkannt. Dieses ungewöhnliche Buch ist ein literarisches Rätsel:

Für das Geheimnis muß Raum sein. Wer klug ist, räumt dem Geheimnis beizeiten einen Raum ein. So zeigt er ihm seine Wertschätzung, und das Geheimnis gerät nicht unter Druck, was einer Verachtung gleichkäme. So was rächt sich. Ich öffne die Tapetentür, und schon bin ich verschwunden; die Räume, in denen ich wandle, wachsen vor meinen Schritten fächerförmig in die Weite. Ich bin nicht auffindbar, für niemanden. Ich lebe inmitten des Nichtmanifesten, des Möglichen, Wartenden, das hier ein Zuhause hat, ehe es Gestalt gewinnt und aufglimmende Farbe und einen sich zögernd preisgebenden Sinn.

Angela Krauß nimmt Wendungen ins Philosophische, absichtsvoll, aber nicht argumentierend. Der Sinn jeder Geschichte, auch der des eigenen Lebens, mag sich in der Rückschau öffnen. Manches deutet sich an, und jeder Moment, auch „jede Tapetentür“, die sich auftut oder geöffnet wird, mag zu etwas Neuem, auch zu etwas Schönem führen. Dieses Buch gibt Rätsel auf, gewiss, aber manche dieser Rätsel können sich bei der Lektüre lösen, einfach so. Dann werden Schritte ins Offene hinein sichtbar und möglich, in das weite Land der Freiheit und der Fantasie.

Titelbild

Angela Krauß: Das Weltgebäude muß errichtet werden. Man will ja irgendwo wohnen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
110 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518431184

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