Die Angst vor dem Vergessenwerden
Frank Witzel erfindet in „Meine Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts“ eine imaginäre Bibliothek vergessener und verschollener Autor*innen
Von Nora Eckert
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIch gestehe, es hat eine Weile gedauert, bis mir klar wurde, dass die allermeisten der in Frank Witzels Literaturgeschichte genannten Schriftsteller*innen erfunden sind – mit ihren Namen und Biografien wie auch mit all ihren zitierten Texten und Gedichten, Fotos und Zeichnungen. Recherchen bei Google, ZVAB, Stabi-Katalog und im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek brachten mir darüber Klarheit mit dem stets wiederkehrenden Suchergebnis „keine Treffer“. Was im Übrigen nicht heißt, dass Witzel nicht auch reale Personen auftreten lässt – wie etwa Paul Celan, Martin Walser, Thomas Bernhard, Reinhard Lettau, Franz Kafka, aber auch Marie Luise Kaschnitz, Ernst Wiechert und Theodor Plivier. Wobei Letztere zitiert werden als Expert*innen im Vergessen und Verschleiern, wo es um die Verbrechen der Nazi-Zeit geht.
Der Zufall wollte es, dass ich kurz vorher die nachgelassenen Texte von Wolfgang Herrndorf las, die unter dem Titel Stimmen erschienen sind, um mich während der Lektüre von Witzels Literaturgeschichte eines Satzes daraus zu erinnern: „Falls ich jemals etwas anderes als reine Fiktion schreiben sollte, erschießen Sie mich bitte.“ Nun, die Maxime würde sich Frank Witzel vielleicht nicht zu eigen machen wollen, aber wäre es so, liefe er jedenfalls nicht Gefahr, für seine Literaturgeschichte erschossen zu werden. Damit stellt sich die Frage, was ist es dann? Vielleicht ein falsch etikettierter Essay über die Frage, warum wir schreiben und über die Anmaßung und Vergeblichkeit alles Schreibens?
Mögliche Wegweisungen lassen sich im Buch selbst finden – oder im Werbetext auf dem Umschlag. Dort heißt es nämlich: „Der Kanon des Buchpreisträgers Frank Witzel: eine Feier der Fiktion, ein Hoch auf die Hochstapelei, ein Lob der Lüge, die wir Literatur nennen.“ Wie gesagt, der doppeldeutige Sinn ist mir erst nach einer Weile aufgegangen. Also nennen wir es Literatur. Witzel hat im wortwörtlichen Sinne eine Literaturgeschichte als Literatur geschrieben – eine Leistung der besonderen Art, nämlich im Kreieren unterschiedlichster Stile und Lebensgeschichten und das in einer beeindruckenden Fülle. Ein Meisterwerk der Imitation und Illusion. Dagegen sind Raymond Queneaus hundert kleine Stilübungen fast ein Nichts.
Aber Witzel spielt oder genauer gesagt schreibt mit verdeckten Karten und gibt sich dabei ganz seriös:
Meine ‚Literaturgeschichte‘ will […] auch nichts anderes sein, als ein mit möglichst vielen Beispielen unterstützter Hinweis auf eine literarische Welt, von der wir wenig wissen und manchmal noch nicht einmal etwas ahnen.
Was sich mit der Lektüre natürlich schlagartig ändert, und wir staunen nicht wenig darüber, was wir wirklich nicht einmal geahnt haben. Wie wäre es beispielsweise mit Konstanze Dahm, die uns Witzel als Ethnologin und Autorin des Romans Suchbild E. vorstellt. Der Roman handelt von der Obsession der Autorin für den Kulturwissenschaftler Friedrich Ellmenbeck (selbst ein Verschollener, wie uns Witzel verrät). Dieser wiederum schuf Aufsätze zu Themen wie etwa: „Das Durchqueren von Bahnunterführungen als Micro-Rite der Passage“ oder „Das Ankreuzen: ein moderner Abwehrzauber. Das systematische Durcharbeiten der Neckermann- und Otto-Kataloge als Versuch zur Errichtung einer Weltordnung.“ Kaum ein Wunder, dass jene Konstanze jenem Friedrich verfiel.
Witzel versorgt uns zusätzlich und zuverlässig mit Lebensdaten und Erscheinungsjahren, lässt uns teilhaben an spektakulären Manuskriptfunden – so als er angeblich 2007 in einem Antiquariat in Birmingham etwas Außergewöhnliches findet. Für zwei englische Pfund ersteht er dort einen dicken DIN-A-4-Umschlag mit einem fast zweihundert Seiten starken Typoskript. Witzel beschreibt uns das Konvolut als einen von Charlotte Ainsley verfassten Anmerkungsapparat zu James Stoddards Poem of the Knight to Come. Einen Stoddard gibt es tatsächlich als US-amerikanischen Autor von Fantasy-Geschichten, nur hat der offenbar kein solches Poem verfasst.
Und dann ist da Georg Schuchardt, Herausgeber des Magazins „Die Kritik“, der eines Tages gestand, „beinahe sämtliche, von ihm besprochenen bzw. verrissenen Bücher erfunden zu haben“. Und weiter: „Es ging mir nie um Betrug, sondern um meine Arbeit als Autor.“ Frank Witzel hat demnach einen Vorgänger, wenn auch nur einen fiktiven. Doch, wie schon gesagt, am Ende geht es um das Schreiben mit all seinen Hemmnissen, Leidenschaften, Eitelkeiten, Abbrüchen und Verstiegenheiten. Wenn wir so wollen, geht es um die Frage nach dem Sinn des Schreibens, die jedoch glücklicherweise am Ende unbeantwortet bleibt. Denn wir müssen nicht den Zweck der Kunst kennen, um sie als Kunst anzunehmen. Ihr Privileg ist seit jeher die Zweckfreiheit und den Sinn schafft sie aus sich selbst heraus. Oder wie es bei Witzel heißt:
Letztlich ist der Zufall ja ein Synonym für die Grundlosigkeit unserer Existenz, die sich in der Grundlosigkeit künstlerischer und literarischer Werke auf besondere Weise offenbart.
Oder noch mal anders gesagt:
Es gehört zur Funktion des Künstlers sich irgendwo auf einem schmalen Pfad zwischen Akzeptanz und Gegenwehr, Bewusstem und Unbewusstem, Zeigen und Verbergen, Privatem und Öffentlichem und vielen weiteren Gegensatzpaaren mehr zu bewegen.
Meine Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts von Frank Witzel ist ein verblüffendes und irritierendes Beispiel für eine Literatur, in der Fiktion und Wirklichkeit lediglich durch die hauchdünne Oberfläche des Spiegels getrennt sind, in der wir uns als kunstproduzierende Gattung selbst betrachten.
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