Ein Tanz um die Wahrheit
Mathias Énard verbindet im Roman „Tanz des Verrats“ eine berauschende Erzählung mit sprühendem Intellekt
Von Beat Mazenauer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAm 10. September 2001 trifft sich eine Forschergemeinde in Berlin zum Kongress über den wenige Jahre zuvor verstorbenen Mathematiker Paul Heudeber. Heudeber gehörte zu einer Generation von Wissenschaftlern, die die Härten von Krieg und Verfolgung am eigenen Leib erlebten und sich dadurch nicht von ihrer Forschung abbringen ließen. Sein Hauptwerk, die Ettersberger Vermutungen, mathematische Elegien, hatte er schon während seiner Lagerzeit im KZ Buchenwald entworfen und niedergeschrieben. Nach der Veröffentlichung 1947 sorgten sie mit ihrer außergewöhnlichen Mischung aus Mathematik und Poesie für Aufsehen. Heudeber blieb nach Kriegsende in der DDR, wo er im Wissenschaftsbetrieb seinen Platz fand. Den Mauerfall überlebte er nur um wenige Jahre. Auf der Berliner Tagung soll an sein bahnbrechendes Werk erinnert werden. Mit dabei sind auch Heudebers Frau Maja und seine Tochter Irina, die Erzählerin. Sie beide sind nach dem Volksaufstand 1953, Irina war damals zwei, nach Westberlin geflohen, wo Maja politisch Karriere machte. All das wirkt an diesem 10. September nach, um Tags darauf, am Morgen des 11. Septembers, vom Erschrecken über den 9/11 verdrängt zu werden.
Dieses mit intellektuellem Spürsinn entworfene rätselhafte Forscherleben konfrontiert Mathias Énard mit einem ganz und gar andersgearteten zweiten Erzählstrang. Ein namenloser Deserteur steigt allein durch eine karge Berglandschaft, um seinen Verfolgern zu entkommen. Hinter jedem Felsen wittert er Gefahr. Ein Gewehr ist sein einziger Besitz und Schutz, er würde nicht zögern, es zu gebrauchen. Entsprechend achtsam reagiert er, als ihm eine Frau mit einem lädierten Esel begegnet, auch sie auf der Flucht. Was würde er mit ihr anstellen?
Im Roman Tanz des Verrats, der im Original Déserter heißt, verschränkt Énard zwei seiner bisherigen Erzählweisen: die geschmeidige, klug angelegte Wissenschaftsfiktion und die dichte Beschreibung einer Szenerie voll latenter Gewalt. Dabei erinnert die Erzählung des mathematischen Genies Heudeber an den Roman Kompass (2016) und dessen wunderbaren Ausflug in die Geschichte der Orientalistik – ohnehin ein Steckenpferd von Mathias Énard; während der Erzählstrang des Deserteurs eine aufwühlende Geschichte aus einem nicht näher benannten Krieg erzählt, um damit an den atemlosen Roman Zone (2010) anzuschließen und noch weiter zurück an sein Debüt Der perfekte Schuss, das 2023 erstmals auf Deutsch erschienen ist. Alle diese Bücher haben notabene Holger Fock und Sabine Müller mit untrüglichem Gespür für Énards Sprache ebenso geschmeidig wie klug und atmosphärisch stimmig ins Deutsche übertragen.
Beide Erzählstränge im neuen Roman handeln von Krieg, Verrat, Angst und Gewalt, ohne dass sie sich überkreuzen und verbinden. Stilistisch wie inhaltlich voneinander abgegrenzt, dienen sie gegenseitig als Resonanzräume. Damit enttäuscht Mathias Énard vordergründig die sukzessiv aufgebaute Leseerwartung, die auf einen konkreten Handlungszusammenhang abzielt. Während die Heudeber-Erzählung mit fiktiven Namen und historischen Reminiszenzen operiert, bleibt bis zum Schluss gähnend offen, um wen es sich beim Deserteur handelt und bei der Frau, die er überraschenderweise in seine Obhut nimmt. Wovor flieht der einsame Kämpfer und mutmaßliche Folterer? Und weswegen wurde die Frau mit kahlem Kopf und nackt durch das Dorf gejagt? Bilder von Deutschenliebchen in Frankreich und serbisch-kroatischen Freischärlern tauchen auf und verbinden sich mit einer geografisch unmarkierten Gegend, die ebenso gut Balkan wie Abruzzen oder Pyrenäen heißen könnte.
In zwei Punkten begegnen sich die Erzählstränge vielleicht dennoch. Paul Heudebers Ettersberger Vermutungen zeichnen sich durch eine lyrische Sprache in Zeilenform aus. Dieses Muster taucht sporadisch auch im Erzählstrang des Deserteurs auf. Einen zweiten Hinweis gibt der im Deutschen titelgebende „Tanz des Verrats“, bei dem es sich, wie im Buch dargelegt wird, um einen jugoslawischen oder ungarischen Tanz handle, der offenbare, „was der andere einem verschwiegen hat. Es gibt nichts mehr zu verbergen, alles kommt ans Licht, alles wird verziehen, ohne dass man etwas gestehen müsste“. Welche Schimären jagen Paul und Maja Heudeber? Wohin treibt es die zwei Versprengten im Gebirge? Wie sieht die Wahrheit aus?
Diese Fragen werden nicht offen beantwortet. Énard geht es in seinem Roman weniger um Klarheit als um die Resonanz zwischen Intellekt und Trost, Gewalt und Hoffnung, Liebe und Verrat. Vor allem nimmt er eine Welt in den Blick, die immer wieder aus den Fugen gerät. Er erwähnt den russischen Überfall auf die Ukraine von 2014 oder den Terrorakt von 9/11 2001, die gewissermaßen Buchenwald und den unerklärten Krieg des Deserteurs weiterschreiben. Für Paul Heudeber ist es die Mathematik, die ihn überleben ließ und ihm weltweit Ehren eingetragen hat. Seine Frau Maja machte Karriere im Kanzleramt von Willy Brandt. Ihre Tochter Irina forscht über den persischen Mathematiker und Lyriker Omar Khayyam (dem notabene Dzevad Karahasan im Roman Der Trost des Nachthimmels 2016 ein literarisches Denkmal errichtet hat). Mit sachlicher Anteilnahme erzählt Irina aus der Erinnerung von 2021 von ihren Eltern, die sie beide geliebt hat, die ihr zugleich immer fremd geblieben sind. Ihre Distanziertheit findet eine Bestätigung, als sie aus der Stasi-Akte ihrer Eltern äußerst Verwirrendes erfährt.
Tanz des Verrats macht es uns nicht leicht. Die Erzählrede in den Kapiteln des Deserteurs schwankt rätselhaft zwischen Er-Rede, Sie-Rede und manchmal auch einem Ich, das als innerer Monolog der Protagonisten oder als Anteilnahme des Erzählers gedeutet werden könnte. Das ist ausgesprochen gewieft gemacht, variiert die Erzählperspektiven und erhöht die Spannung. Vor allem brillieren diese Kapitel mit ihren atmosphärischen Beschreibungen, in denen Énard berauschend schön Geräusche und Düfte einfängt, das aufkommende Gewitter präzise beobachtet und die spröde Karstlandschaft sinnlich erfahrbar macht. Wer sich in dieser Gegend so wie der Deserteur zurechtfinden will, muss alle Sinne offen halten. „Entsetzen liegt über dem Land, die Pest, der Hass und die Nacht, diese Nacht, die einen immer umgibt, bis man irgendwann zum Feigling, zum Verräter wird.“
Demgegenüber zeichnen sich die von Irina erzählten Heudeber-Kapitel durch ihr Interesse für wissenschaftlich-historische Zusammenhänge aus, mit denen Énard immer wieder einen Erkenntnismehrwert für seine Leserschaft bereithält. Er ruft historische Bilder auf und überlässt es uns, sie miteinander zu verknüpfen. Welches Fazit wir aus dem Doppelstrang seines Romans schließlich ziehen, bleibt uns selbst überlassen. Tanz des Verrats aber liest sich in allen Teilen atemlos spannend, kompakt, ohne unnötiges Gerede. Sein Autor bezeugt darin seine stupende Erzählkunst ebenso wie seinen sprühenden Intellekt, welche er – das Geheimnis seines Erzählens – so unangestrengt wie wunderbar zusammenführt.
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