Vom Recht auf Geheimnis

Derrida über das Verhältnis von Bild und Text – Lineagen / Mille e tre, fünf

Von Andreas JackeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Jacke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anhand dieses auf sehr ansprechende Weise gestalteten Buches lässt sich Derridas langjährige philosophische Beschäftigung mit der bildenden Kunst nochmals in einem bereits weit fortgeschrittenen Stadium nachvollziehen. Schon 1978 hatte der Philosoph mit seinem kunsttheoretischen Hauptwerk Die Wahrheit in der Malerei eine komplexe Deutung für das Verhältnis zwischen Bild und Text gegeben. Ähnlich anspruchsvoll und literarisch ist dieser Band, der an einigen Stellen aufgrund seiner persönlichen Note und seiner Fragmentierung an die Lektüre des ersten Teils von Die Postkarte (1980/ 1983) erinnert. Die Lektüre enthält neben einem Rundgang durch Derridas typische Philosopheme, konkrete Bildskizzen, die auf eine besondere Weise arrangiert wurden. Lineagen / Mille e tre, fünf stellt damit eine besondere Verifikation seiner Überlegungen zur (Un)-Möglichkeit von Bildinterpretationen dar.

Der Band war bereits 1996 auf Französisch erschienen, seine deutsche Übersetzung erfolgte 2021 demnach als ein Supplement mit einer Verzögerung von knapp fünfundzwanzig Jahren. Dieser Verzug kommt einer Philosophie jedoch entgegen, die wie keine andere auf die Posteffekte aufmerksam gemacht hat: Ein Buch kann nach Derrida nicht zu spät erscheinen, weil es immer schon in einer Verzögerung, die das Phantasma der Präsenz aushöhlt, herauskommt und auch gelesen wird. Und ein Buch kann auch niemals ausgelesen werden, weil es immer neue Sinnebenen eröffnet. Daher geht diese außergewöhnliche intermediale Meditation zwischen Bild und Wort, weil sie gänzlich immun ist, gegen kurzweilige Modeerscheinungen, über ihre Zeit hinaus.

Am Anfang der 90er-Jahre hatte die in Paris lebende rumänische Künstlerin Micaēla Henich insgesamt 1003 Tuschzeichnungen angefertigt und dann fünf namhafte Autoren darum gebeten, ihre Bilder in der Form von „Legenden“ zu kommentieren. Der Begriff der „Legende“ weist bereits auf eine offene Form hin, denn er bedeutet, dass es sich um kurze, erbauliche religiöse Erzählungen, über Leben und Tod oder auch um das Martyrium von Heiligen handeln sollte. Derrida nahm die von der Künstlerin gestellte Aufforderung an und nannte seinen Korpus von Texten, der aus insgesamt 200 Aphorismen besteht (seine Kommentare zu den Zeichnungen 801-1000) „Lineagen“, was so viel bedeutet wie Abstammungslinien, Nachkommenschaften, Geschlechter oder auch Stämme. Damit wird ein psychoanalytischer, kunsthistorischer, philosophischer Verknüpfungspunkt zwischen den Zeichnungen hervorgehoben, in dem der Autorenschaft (und sei sie auch nur imaginiert) als Abstammungslinie eine Priorität eingeräumt wurde.

Die Zeichnungen bilden erst mal eine Reihe, die Derrida abschreitet und zugleich bestreitet er ihren linearen Ablauf, weil jedes Bild exemplarisch angelegt sei. Jede Zeichnung könne daher mit allen anderen schwanger gehen. Und er verfolgt in seinen kurzen Aphorismen zu jeder Zeichnung auch nicht eine, sondern ein ganzes Bündel von Interpretationslinien. Dabei arbeitet er, wie so oft, vor allem mit lyrischen Verdichtungen und Verschiebungen. Sein ganz eigener und unverwechselbarer literarischer Stil lässt die Lektüre zu einem Erlebnis werden. Die schwingende Form wird durch den langjährigen Derrida-Übersetzer Markus Sedlaczek noch unterstützt, wenn er in seinem ausführlichen Kommentar im Anhang die sprachlichen Mehrdeutigkeiten und zahlreichen Sprachspiele aufdeckt, die in der französischen Vorlage verborgen liegen.

Für Derrida kann die Wahrheit eines Bildes durch einen Text, ganz gleich welcher Art, nicht beschrieben werden. Das Bild (ähnlich wie die Metapher) ist nie endgültig deutbar, sondern lediglich in immer weiteren Auslegungen in einer äußerst dynamischen Begegnung mittels eines Kommentars ergänzbar. Umso vieldeutiger oder metaphorischer die Worte gewählt sind, desto näher kommt der Text möglicherweise dem Bild aufgrund der von beiden geteilten Mehrstimmigkeit. Er deutet die Zeichnungen daher auch nicht, er versucht vielmehr in einem fiktiven Dialog mittels seiner Philosophie mit ihnen zu treten. Er fühlt sich sogar verführt zum Sprechen, weil die Bilder schweigen würden, weil die Künstlerin stumm bliebe. Weil sie nicht spricht, ist er genötigt zu projizieren. So nimmt er Impulse aus ihren Zeichnungen und kommentiert sie mit eigenen literarischen und philosophischen Gedankengängen. Da er stets vom Bild ausgeht, berühren seine Texte ihre Zeichnungen, sie okkupieren sie aber nicht durch Ausdeutungen, sie streifen und ergänzen sie. Aber sie benötigen einander nicht. Und vor allem das eine repräsentiert nirgendwo das andere: Auf den Bildern „gibt es kein Ding, nur (eine) Gezeichnete(s).“ Die Bilder illustrieren genauso wenig den Text, wie der Text die Bilder tatsächlich interpretieren würde. Es gibt keinen Transfer von einem Medium ins andere. Die Beziehung ist frei von einer Aneignung. Dabei gehen all die Geschichten, die Derrida erfindet, ohnehin in eine von ihm immer wieder benannte Leere, beispielsweise wenn er feststellt, dass es die Abwesenheit jeglicher Absicht gewesen sein könnte, die die Zeichnungen zusammenhält.

Er assoziiert so aufgrund bestimmter Figuren und ihre Konstellationen in den Tuschezeichnungen bestimmte Motive. Er spielt lange mit dem Herstellungsprozess, vor allem mit dem Strich, der die Bilder gemalt hat. Was oder wer zieht den Strich, fragt er sich einmal. Und er denkt über die Hand der Künstlerin nach und ihre Vorgehensweise beim Zeichnen. Einmal spielt er mit dem beinah Anagramm zwischen chine (chinesisch) und dem Namen der Künstlerin Henich im Zusammenhang mit der Chinatusche, mit der die Bilder gemalt wurden. Da es nicht ihre „gemalten“ Botschaften sind, die in seinen Deutungen aufleuchten, könnten es nicht nur seine Projektionen, sondern auch seine Halluzinationen sein, die mit den Zeichnungen in eine eigenwillige Beziehung treten. Aber auch die Künstlerin selbst habe „schwer deliriert, aber eben vor mir (ist das so sicher?)“, und so ergibt sich zuweilen sogar eine Art Zweikampf. Die Frage, was er sieht, stelle er sich unaufhörlich. Seine Interpretationen kreisen um ein Geheimnis, eine Leerstelle, die im Zentrum den Zugang zu den Zeichnungen unaufhörlich kryptiert. Es handelt sich um das Geheimnis der Künstlerin, dass er nicht auflösen kann, aber auch gar auflösen will. Sie versteckt sich hinter ihren Strichzügen, schreibt er einmal. Dann sieht er auf der Zeichnung 923 große Bücher mit Schlössern, die Blöcke, „in denen all diese Frauen über ihre Geheimnisse Tagebuch führten“. Ein anderes Mal erklärt er, dass man die Frauen nicht zeigen wird, sie werden verschleiert bleiben. Sie, die Künstlerin selbst, verschwände mehr als einmal in ihren Zeichnungen.

Sichtbar werden aber neben den Strichen häufiger Bücher und Briefe, auch Grabmale, das männliche Geschlecht, einmal sieht er einen kleinen weißen Kindersarg, aber vor allem kann er immer wieder Häuser erkennen. Das Haus ist aber der Ort der familiären Abstammung schlechthin. Architektonik kehrt immer wieder und Gesteinskunde begleitet sie. Er liest zudem jüdische Motive heraus, wie z. B. Moses, die Thora, Bundeslade, den Tallit oder gar die Leiter aus Jakobs Traum, deren Treppen sich aber wiederum aus Dachziegeln gebildet haben. Die Gesetze der Gastfreundschaft würden zwar alle diese Häuser auf dem Papier verwalten, das Haus selbst, die Familie, der Hort der Abstammung seien jedoch durchgestrichen. Die Genealogie und wie Derrida auch sagt, die Fahrt der Künstlerin zu ihrem Lighthouse (in Anspielung auf V. Woolfs berühmten und deutlich von ihrer familiären Herkunft geprägten Roman To the Lighthouse (1927), verläuft hier über Durchstreichungen, Unkenntlichmachungen, Verneinungen. Das Geheimnis bleibt am Ende immer gewahrt. Henich habe Schutzräume gezeichnet, um es auszustellen. Sie habe ein „gigantisches scrabbel“ gekratzt, gekrakelt und graviert. Er sähe nur „homeless homes“.

So verhandelt er immer wieder eine assoziative Graphologie der Künstlerin und liefert dabei eine fragmentierte, kreisende, durchaus dramatische aber auch ebenso geheimnisvolle offene Deutung. Dabei begegnet er nur ihren Zeichnungen, ohne jegliche biografischen Rückgriffe und kaum Bezugnahmen auf die Person. Er trifft Henich durch Sichtung ihrer Kunstwerke und spricht von einem Familienfluch, den er in den Zeichnungen wahrzunehmen glaubt. Derrida nennt sie in seinem Aphorismus zu Zeichnung 952 eine „andere Dora“ in Anspielung auf Freuds berühmten Fall, indem die Tochter psychisch schwer belastet war durch das Fremdgehen ihres Vaters, dass sie von einem brennenden Familienhaus träumte. Henich habe das gesamte Mobiliar des Hauses auf Zeichnung 956 in der Atmosphäre zwischen Himmel und Erde aufgehängt, schreibt er. Und er spricht von Lacans Namen-des-Vaters, der hier weiß sei und imaginiert sich selbst einmal in die Vaterposition.

Ein sehr ergreifendes Buch, das neben allem anderen, die Beschreibung der möglichen Form einer Begegnung mit dem/der Anderen, über die Derrida so viel philosophiert hat, seinen Leser* und Betrachter*innen vorführt.

Titelbild

Jacques Derrida / Micaēla Henich: Mille e tre, fünf. Lineagen.
Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek.
Brinkmann & Bose Verlag, Berlin 2021.
1 Band (nicht paginiert) , 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783940048417

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