Literaturwissenschaftliche Weiterbildung als Genuss
Ernst Osterkamp legt eine fulminante Studie über den vergessenen Autor Michael Beer (1800-1833) vor
Von Günter Helmes
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMichael Beer? Nicht mehr wusste ich bislang über diesen Autor – es handelt sich um den jüngsten Bruder und „vertrautesten Helfer[]“ des hocherfolgreichen, in der vorliegenden Studie ebenfalls mehrfach angesprochenen Opernkomponisten Giacomo Meyerbeer –, als dass er ein von Goethe geschätztes Trauerspiel Der Paria geschrieben hat und zu jenen Frühverstorbenen gehört, die wie beispielsweise Hermann Conradi am Ausgang des 19. oder Robert Müller im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts nach ihrem Tod rasch in Vergessenheit geraten sind.
Tröstlich für mich in diesem Zusammenhang: Dass es dem Biographen Ernst Osterkamp zunächst nicht anders gegangen ist. Für ihn war der durch „Reichtum“ und „Judentum“ zum „Außenseiter im Literaturbetrieb seiner Zeit“ gestempelte „Biedermann“, nach der damaligen Wortbedeutung also „rechtschaffene[], vertrauenswürdige[], tüchtige[] und deshalb achtbare[]“ Michael Beer anfangs auch nur eine „Randfigur der Goethe-Philologie“ und, nach einem „Überblick über seine Dramen“, das Musterbeispiel eines „Epigone[n]“.
Im durch die Beschäftigung mit dem Werk des mit Beer befreundeten Karl Immermann und demjenigen des berühmten Bruders angeregten näheren Kennenlernen sei dann aber die Erkenntnis herangereift, so Osterkamp, dass der „deutsche Kosmopolit“ mit „umfassende[r] Metropolenerfahrung“ (Berlin, Paris, Rom, Wien), der „deutsche Jude“ Michael Beer „in seinen Ambitionen, in seinen Erfolgen und in seinem Scheitern“ eine „repräsentative Gestalt des ersten Jahrhundertdrittels“ gewesen sei, an der sich damalige „künstlerische Produktionsbedingungen modellhaft studieren lassen.“ Eine Gestalt, die, „weitgehend einsam“ in einem „komfortablen Juste Milieu“ lebend, „inmitten gesellschaftlicher Bezüge und literarischer Verbindungen“ gestanden habe, „wie nur wenige Autoren seiner Zeit über sie verfügten.“
Wer Michael Beers Leben zu vergegenwärtigen sich vorgenommen hat, besichtigt zugleich sein Zeitalter in dessen zentralen künstlerischen, politischen und sozialen Spannungen.
Freilich: Um eine auf die Gegenwart bezogene „Rettung“ des Werks des zum „ästhetischen wie politischen Kompromiss“ neigenden Michael Beer – „keiner literaturwissenschaftlichen Anstrengung wird es je gelingen, seinem Werk noch einmal die Aufmerksamkeit einer größeren Leserschaft zu sichern“ – sei es ihm nie gegangen, gehe es ihm nicht. Doch könne man an dem von Ludwig Börne gar als „dramatischer Eselskopf“ verspotteten Michael Beer lernen,
wie schwer es zu [dessen] Zeit auch für einen hochbegabten Schriftsteller aus vermögendem Hause war, sich auf dem deutschen Literaturmarkt als Trauerspieldichter zu etablieren, wenn [man] ein deutscher Jude war.
Die u.a. auf zahlreiche Briefe Beers und anderer zurückgreifende und sich erhellend mit Eduard von Schenks faktisch zensurierenden Beer-Editionen (Sämmtliche Werke, 1835; Briefwechsel, 1837) auseinandersetzende Studie besteht aus 15 unnummerierten Kapiteln. Diese Kapitel fallen nicht nur aufgrund ihres moderaten Umfangs – die Mehrzahl hat 20 Seiten und weniger – ausgesprochen leserfreundlich aus, sondern auch aufgrund ihres gediegenen, von Jargon und Begriffshuberei freien Deutsch. Für sich einnehmend ist in diesem Zusammenhang auch, dass Osterkamp nie über die Lücken und Grenzen seines de facto stupenden Wissens im Unklaren lässt und Mutmaßungen und Spekulationen auch als solche kennzeichnet.
Je nach Fokus stehen in diesen Kapiteln neben übergreifenden gesellschafts- und kulturgeschichtlichen sowie biographischen Fragestellungen solche verlags- (Cotta, Brockhaus), medien-, kunst- und geschmacksgeschichtlicher, gattungstheoretischer, gattungsgeschichtlicher, literatursoziologischer oder auf Literatur und Musik bezogener sozialgeschichtlicher Provenienz im Vordergrund. Derer bedarf es, um so, wie Osterkamp das vermag, Beers Leben und sein dramatisches (Trauer- und Lustspiele), erzählerisches (Novellistik) und lyrisches Werk souverän, d.h. ebenso argumentationsstark wie perspektivenreich zu entfalten bzw. zu kontextualisieren, zu analysieren und zu interpretieren.
Was das literarische Werk des gewieften Netzwerkpolitikers Michael Beer anbelangt, sind die Kapitel 5 bis 7 und 9-13 von besonderem Interesse. Insbesondere diejenigen – die Komödien, Prosa und Lyrik betreffenden bleiben an dieser Stelle aus Raumgründen ausgespart, sie verstehen diese Texte als Ausbruchsversuche Beers aus seiner „Trauerspielfabrik“ –, die von Beers Trauerspielen Klytemnestra (1819), Die Bräute von Aragonien (1821), Der Paria (1824), Struensee (1828) und Schwert und Hand (1831) handeln. Auf die „stofflich-thematische Welt“ dieser Trauerspiele sei der zusehends modernitätsbewusste Beer, so heißt es im biographisch-mental aufschlussreichen Kapitel „Michael in Italien“, „durch die zeittypische Verbindung von klassischem Bildungsgut und aufblühendem Historismus“ „solide“ vorbereitet gewesen.
Für das in Berlin mit großem Erfolg uraufgeführte „antikisierende[] Trauerspiel“ Klytemnestra wird u.a. auf die für einen Neunzehnjährigen „erstaunliche künstlerische Metiersicherheit“, auf eine unter Formaspekten prekäre „konsequente Psychologisierung“, auf die „formalen Konsequenzen“ der „Gattungskonkurrenz von Oper und Tragödie“ und auf das vielsagende Faktum verwiesen, dass Beer seine Dichterlaufbahn mit einem „Muttermord“ beginnt.
Die Handlung des „missratenen“ „romantische[n] Eifersuchtsdrama[s]“ Die Bräute von Aragonien sei ein „beträchtlicher Unfug“. Wie viele andere auch habe der junge Beer „unter dem Druck der Zensur“ mit „großem Ehrgeiz Literatur aus Literatur erzeugt[]“. Den „Mangel an ideeller Substanz und den Eindruck fehlender Originalität“ habe er dabei durch eine „um sex and crime organisierte“ „Effektdramaturgie“ zu überspielen versucht.
Mit dem Ende 1823 in Berlin uraufgeführten, durch Goethes Fürsprache sogar in Weimar gegebenen Einakter „mit humanistischer Botschaft“ Der Paria habe der „homo unius libri“ Michael Beer „in einer Zeit der Konversionen preußischer Juden zum Protestantismus und des wachsenden“, sich auch in einem „infame[n] Stück“ wie Karl Borromäus Alexander Sessas Kassenschlager Unser Verkehr (1815) niederschlagenden Antisemitismus ein „öffentliches Bekenntnis […] zu seinem Judentum“ abgelegt. Mit diesem gegen die „Reschoim“, die Judenfeinde gerichteten „Stück der Stunde“ – „aus einem Guss“ und von „[a]tuellste[r] Brisanz“, doch ohne jene „Schärfe der Anklage“, die Lessings Die Juden auszeichne – sei Beer damals für einen Moment „im Zentrum des deutschen literarischen Lebens angekommen“.
Das auf dem Königlichen Theater in München uraufgeführte, Ludwig I. gewidmete und 1772 am dänischen Hof spielende Trauerspiel Struensee über den gleichnamigen Aufklärer sei nicht nur Beers „letzter großer Erfolg“ gewesen, sondern auch sein „gewichtigste[s] und umfangreichste[s]“ Drama. Obwohl das Drama zeitgenössische Probleme „zwischen Reform und Restauration“ nur „touchiert“ und Struensees Sturz nicht politisch-ideologisch, sondern als Folge „eigene[r] menschliche[r] Schwäche“ motiviert habe – so auch das Verhalten seiner Gegner –, sei es, ein „Liberale wie Monarchisten“ gleichermaßen ansprechendes politisches Drama mit den Mitteln einer elisabethanischen Rachetragödie“, in der Restaurationszeit doch von Vielen als „Zeitstück“ im „historischen Gewand“ wahrgenommen worden. Faktisch münde es freilich in ein „restauratives Festspiel.“
Mit dem 1832 in Berlin uraufgeführten, im Jahre 1815 spielenden und nur „mäßig“ erfolgreichen Trauerspiel Schwert und Hand habe der gesundheitlich schon angeschlagene Beer angesichts der eine „Einbuße an poetischer Freiheit“ nach sich ziehenden „Verwissenschaftlichung der Geschichte“ (Historismus) und beeinflusst durch das „Erscheinen des Schiller-Goethe Briefwechsels“ vom Geschichtsdrama Abschied genommen. Der „Substanz“ nach handele es sich um ein „Familiendrama im Iffland’schen Sinne“, das sich in den „Sphären des zeitgenössischen Salonstücks“ des „ungleich virtuoser[en]“ Eugène Scribe bewege.
Geradezu ein literaturhistorischer bzw. -soziologischer ‚Leckerbissen‘ von paradigmatischer Bedeutung ist das vorletzte Kapitel „Das Problem, reißfeste Netzwerke zu knüpfen“. Das liest sich stellenweise wie ein u.a. um „do ut des“-Praktiken, Korruptionsvorwürfe und um „Vernichtungsstrategien“ kreisender Intellektuellenkrimi, in diesem Falle mit dem „liebenswürdige[n]“ „Gesellschaftsmensch[en]“ Beer, dem moderaten Immermann sowie den geradezu brutalen Börne und Heinrich Heine in den Hauptrollen und Goethe, Ludwig I. von Bayern, August von Platen und von Schenk in Nebenrollen bzw. als Opfer (von Platen). Die zentrale, die zahlreichen Einzelbefunde überspannende These Osterkamps lautet:
Ohne Netzwerke, die die Verbindungen zu Theatern, Verlagen, Redaktionen, politischen Entscheidungsträgern regulierten und die Konkurrenz in einem erträglichen Rahmen hielten, waren (nicht nur) in dieser Zeit keine literarischen Karrieren möglich, und die Mitglieder solcher Netzwerke nannten sich Freunde, solange es ging und von Nutzen war.
Wie es um die sogenannten Freundschaften des auch philanthropisch ausgewiesenen Michael Beer tatsächlich bestellt war, wird im Schlusskapitel „Letzte Jahre“ ein weiteres Mal deutlich. Das nennt ihn guten Grundes eine „Randfigur nicht nur der deutschen, sondern vor allem auch der deutsch-jüdischen Literaturgeschichte“. Die „Erschütterung“ über Beers unerwartetes, einsames Versterben in seinem letzten Wohnort München an einem „Nerven- und Faulfieber“ (nach Henry Reeve) nämlich sei selbst bei „bewährteste[n] Freunde[n] maßvoll“ gewesen.
Dieses Schlusskapitel, das herausstellt, dass Beer „in seinem letzten Lebensjahr in der literarischen Landschaft Deutschlands merkwürdig isoliert“ gewesen sei, fasst jene in enger Verbindung stehenden Gründe zusammen, die ihn ins „literaturgeschichtliche Abseits“ geführt haben. Dabei kommt dem in der Familienkorrespondenz „Risches“ genannten Judenhass, der eine „konstitutive Bedingung“ für Beers schriftstellerische Laufbahn gewesen sei, und dem nie erlahmenden Widerstand Beers gegen diesen eine zentrale Bedeutung zu (vgl. auch das 7. Kapitel über Der Paria und das hier ausgesparte 8. Kapitel „Dichterfreundschaft unterm Druck des Risches: Michael Beer und Karl Immermann“).
Dem „im Dienst seiner Familie“ (das kunstbeflissene „Kerndreieck“ aus der Michael „abgöttisch“ liebenden und damit in Fesseln schlagenden Mutter Amalie, Bruder Giacomo und ihm selbst) zerfleddernden Leben Beers habe es an „innerer Konsequenz“ gefehlt, um einen „persönlichen Stil“ zu entwickeln. Da er als „deutsche[r] Jude“ danach gestrebt habe, als „ein deutscher Dichter“ mit einem „festen Ort im Zentrum der deutschen Literatur“ anerkannt zu werden, habe er sich für das „große historische Trauerspiel“ entschieden. Das habe zu seinen Lebzeiten zwar noch das „höchste Ansehen“ genossen, habe dann aber – Stichworte: die Oper, „romantische[] Formexperimente“, das „soziale[] Drama“ – rasch an Renommee verloren. Das München Ludwigs I. jedenfalls sei Beer als „guter Ort“ für sein auf „Stabilität“ in „gattungstheoretischer und -geschichtlicher“ Hinsicht setzendes Unterfangen erschienen. Im Bestreben, dem Königshaus auch auf „politisch-pragmatischem“ Gebiet nahe zu sein, habe er zudem eine literarischen Erfolg versprechende Strategie gesehen.
Fazit: Wenn Ernst Osterkamp eingangs die Hoffnung ausspricht, „Leben und Werk Michael Beers in ihren wichtigsten historischen, politischen und literarischen Bezügen so dargestellt zu haben, dass sich die Leser mit Gewinn der Begegnung mit diesem Schriftsteller erinnern werden“, so kann man ihm versichern, dass ihm dies in vorzüglicher Weise gelungen ist. Daran rütteln auch einige Wiederholungen sowie der Umstand nicht, dass an einigen wenigen Stellen Aussagen – über das Psychologisieren in Trauerspielen Beers und Grillparzers, die Rede vom „homo unius libri“ – angesichts anders lautender Einzelanalysen nicht ganz stimmig erscheinen. Schließlich: Wäre es ganz abwegig, Der Paria und Struensee neu zu edieren?
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