Einsames Unglück
Antonio Lobo Antunes‘ Roman „Am anderen Ufer des Meeres“ blickt zurück auf den Kolonialkrieg
Von Peter Mohr
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Was und wie ich schreibe, muss unbedingt etwas mit mir zu tun haben, mit meinen Hirngespinsten und Obsessionen“, hatte der große portugiesische Schriftsteller Antonio Lobo Antunes vor einigen Jahren in einem Interview über sein dichterisches Credo befunden. Seit mehr als zwanzig Jahren wird sein Name in jedem Herbst stets hoch gehandelt, wenn das Rätselraten um die Verleihung des Nobelpreises in die heiße Phase geht. Nun ist der 30. Roman des inzwischen 82-järigen Portugiesen erschienen, der viele Jahre als Chefarzt einer psychiatrischen Klinik gearbeitet hat.
Seine langjährige Übersetzerin Maralde Meyer-Minnemann, die auch diesen Roman wieder vorzüglich aus dem Portugiesischen übertragen hat, erklärte vor einigen Jahren einmal treffend, dass es so schwierig mit diesen Romanen sei, weil man unentwegt traurigen, gebrochenen Figuren begegnet. Zuletzt hatte Lobo Antunes 2022 im Roman „Die letzte Tür vor der Nacht“ eine weitverzweigte Reise ins Unterbewusste von fünf Männern vorgelegt, die durch einen grausamen Mord auf mysteriöse Weise miteinander vereint sind.
Der neue Roman dreht sich um ein lebenslanges Trauma des Autors, um die blutige portugiesische Kolonialpolitik. Es ist ein Roman des Erinnerns und der nationalen Besinnung, in den viele persönliche Erfahrungen aus Lobo Antunes‘ Zeit als Militärarzt im Unabhängigkeitskrieg in Angola eingeflossen sind. In vielen inneren Monologen geht es um Rassismus, Gewalt und Unterdrückung.
Lobo Antunes lässt drei höchst unterschiedliche Figuren über deren Eindrücke in den frühen 1960er Jahren berichten, über einschneidende Erlebnisse und deren lebenslange Wirkung. Da ist die Tochter eines Betreibers einer Baumwollplantage, die sich aus Erinnerungsfragmenten aus der Kindheit, die geprägt war von der Brutalität ihres Vaters, ein stimmiges „Bild“ zusammen setzen will.
Zweite ‚Hauptfigur‘ ist ein unbedeutender, spießiger Kolonialbeamter, der mit einer Angolanerin zusammen lebt, die er von deren Vater gekauft hat. Sexuelle Übergriffe gehörten zur leidvollen Tagesordnung, die Frau flüchtet ins Schweigen, verlässt ihn aber nicht. Dritter Protagonist ist ein Oberst, der den Krieg mitgemacht hat, eine freudlose Ehe führt und sich mit regelmäßigen Seitensprüngen vergnügt. Die gealterten Figuren ziehen auch Bilanz über ihre eigene Vita – einsam, melancholisch und traumatisiert.
Alle drei leben wieder in Portugal – „am anderen Ufer des Meeres“. In der Erinnerung der Romanfiguren geht es nicht chronologisch, sondern höchst assoziativ zu. Wir erleben als Leser drei Varianten höchst subjektiver, emotionaler Geschichts(be)schreibung.
Das einst junge Mädchen glorifiziert in der Retrospektive ihre Kindheit:
Obwohl ich vor vielen Jahren weggegangen bin, habe ich die Orte, die ich bewohnt habe, nie verlassen, oder aber sie sind es, die mich immer begleiten, ich höre den Mispelbaum, höre das Pfeifen der Gräser.
Der Offizier schwelgt in Erinnerungen an vermeintliche militärische Heldentaten, verdrängt dabei aber die blutige Komponente seines ‚Diensts‘. Der Beamte trauert seinen früheren Privilegien nach, während ihm sein Heimatland Portugal völlig fremd geworden ist. Der gesamte Roman wird durch die Stimmen der drei Protagonisten getragen von einer emotionalen Melange aus Hoffnungslosigkeit und Melancholie. Die Figuren stehen in keinerlei Verhältnis zueinander, im Wechsel der Erzählperspektiven grübelt jeder für sich allein (alle leicht schwermütig) vor sich hin.
Schon 1998 ließ Lobo Antunes in seinem Roman „Portugals strahlende Größe“ eine Figur befinden: „Es ist unmöglich, zu zweit unglücklich zu sein, denn Unglücklichsein ist etwas Einsames.”
Antonio Lobo Antunes ist und bleibt ein begnadeter, absolut singulärer Seelenvermesser, ein Autor, der psychische Deformationen auf beinahe einzigartige Weise transparent zu machen versteht. Da steht der ausgebildete Psychiater Lobo Antunes mit seinem reichen Erfahrungsschatz dem Schriftsteller Lobo Antunes immer bereitwillig zur Seite. „Am anderen Ufer des Meeres“ ist ein meisterliches „künstlerisches Empfehlungsschreiben“ für den Nobelpreis an die Stockholmer Akademie.
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