Literarische Luisen

Siegfried Carl erinnert in „… immer Luise“ auf originelle Weise an schreibende Frauen der deutschsprachigen Literaturgeschichte

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einen Blick in die deutsche Literaturgeschichte anhand der Zusammenstellung von AutorInnen zu werfen, denen ein so kontingentes Kriterium wie der Vorname gemeinsam ist, scheint ausgesprochen willkürlich und darum wenig vielversprechend. Dass ein solches Unterfangen tatsächlich sehr informativ und dabei sogar noch ausgesprochen unterhaltend sein kann, hat Siegfried Carl mit seinen „poetische[n] Literaturgeschichten über Schriftstellerinnen des 18. bis frühen 20. Jahrhunderts“ unter Beweis gestellt.

Informativ ist der Band nicht zuletzt, weil unter den 88 im 18. oder 19. Jahrhundert geborenen Autorinnen deutscher Zunge, „mit dem Vornamen L(o)uise – sei es als Ruf- oder weiterem Vornamen oder gewähltem Pseudonym –“ neben einigen namhaften Autorinnen auch etliche weithin unbekannte sind, die es zu entdecken gilt. Denn allzu oft wurden sie von der über schreibende Frauen in „oft einseitiger subjektiver, divinatorisch-patriarchaler Weise“ urteilenden Germanistik zu unrecht aus dem literarischen Kanon getilgt und im Orkus des Vergessens versenkt. Unterhaltsam wiederum ist der Band, weil sich Carl den Schriftstellerinnen, ihrer Literatur und ihrer Poesie auf denkbar originelle Weise nähert, nämlich selbst literarisch und poetisch; und zwar „mit geistes- bzw. literaturwissenschaftlichem Hintergrund, aber ohne literaturwissenschaftliches Tamtam“.

Zunächst stellt der Autor eine jede von ihnen in einer „subjektiv geprägte[n] biografische[n] Skizze“ von bis zu vier Seiten Umfang vor, die zugleich „wichtige historische Fakten“ bietet. Sodann lässt er die betreffende Autorin mit einem kleinen Textauszug oder einem Gedicht selbst zu Wort kommen, bevor er es seinerseits wieder ergreift und eine „fiktive[] Mikrogeschichte[]“ aus dem Alltag der Autorin oder eines fiktional ausgemalten besonderen Vorkommnisses erzählt. Beschlossen wird die Vorstellung jeder Schriftstellerin mit Poesie aus Carls Feder. Zumeist stimmt er eine sapphische Ode auf sie an, gelegentlich aber greift er auch einmal zu „Volksliedhafte[m]“, Sonetten oder gar Stanzen.

Der Autor hat ‚seine’ L(o)uisen chronologisch nach der Abfolge ihrer Geburtsjahre angeordnet. Den Anfang macht somit Luise Adelgunde Victorie Gottsched (1713–1762), deren „intime Freund[schaft]“ zu Dorothea Henriette von Runckel unlängst von Angela Steidele brillant literarisiert wurde. Der Gottschedin folgt die zu ihrer Zeit noch um einiges erfolgreichere und heute noch immer zumindest in literarisch bewanderten Kreisen kaum weniger bekannte, aber – mit wie viel Recht oder Unrecht auch immer – weit weniger gut beleumundete Anna Louisa Karch (1722–1762). Dabei war sie im deutschsprachigen Raum immerhin die erste, „die von ihrer Dichtung lebt[e], leben muss[e]“. Doch wird sie längst „eher als kurioses Museumsstück, denn als ernstzunehmende Schriftstellerin angesehen“. Carl unternimmt jedoch eine Ehrenrettung der „alle dichtenden Frauen in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts überragenden Karschin“.

Hedwig (Albertine) Louise [de] Pernet (1742–1801) war ebenfalls eine Erste. Denn mit ihrem Versuch in Fabeln und Erzählungen, nebst einem komischen Trauerspiel in Versen veröffentlichte sie 1770 „das erste Werk der steirischen Aufklärung“. Nicht aus dem steirischen, sondern aus Eisenach stammt Friederike Charlotte Luise Freiin von Riedesel (1746–1808), doch teilt sie mit Pernet das Schicksal, in ihrer Heimat kaum mehr Beachtung zu finden. Ganz anders hingegen in den USA. Denn die „nachhaltige schriftstellerische Leistung“ der „genaue[n] Beobachterin und stilsichere[n] Darstellerin“ besteht in der Schilderung der „privaten, menschlichen und sozialpolitischen, militärischen Umstände“ während der amerikanischen Unabhängigkeitskriege. Diese erweckte sie in ihrer „private[n] Briefkorrespondenz“ für ihre in der Heimat verbliebenen Verwandte und FreundInnen zum Leben, während sie selbst mit ihrem Mann jenseits des Atlantiks „unter kaum vorstellbaren Zuständen im Militär-Camp neben den Schlachtfeldern [lebte]“. Carl warnt allerdings davor, „sie zur ersten Kriegsberichterstatterin, zur Auslandskorrespondentin zu stilisieren“. Das werde der „intime[n] Briefschreiberin nicht gerecht“. In einer fiktionalen Kurzgeschichte erzählt Carl von einem Weihnachtsfest, zu dem die Riedesels den traditionell deutschen Weihnachtsbaum aufgestellt hatten und den Brauch so in die Neue Welt brachten. Die Begebenheit selbst mag sich tatsächlich ereignet haben. Dass der geschmückte Baum von einem der anwesenden Amerikaner mit dem Ausruf „Oh, wow!“ bewundert wurde, dürfte allerdings ein Anachronismus sein und ist wohl unter dem Rubrum schriftstellerische Freiheit zu verbuchen.

Die Dichterin Caroline Louise Rudolphi (1753–1811) wiederum legte dem Autor zufolge „frühe Maßstäbe“ für die Erziehung von Mädchen sowie für eine „dialogische Unterrichtsgestaltung“ und „die Gleichberechtigung der Frauen“. Daher sei „ihre Wirkung auf die Pädagogik und die Frauenbewegung […] nicht zu unterschätzen“. Als „pädagogisches Vorbild“ Rudophis nennt der Autor Joachim Heinrich Campe, der „eine der Größen in [sic] Beginn einer wissenschaftlichen Pädagogik der Aufklärung“ gewesen sei. Tatsächlich ist Campe mehrfach mit pädagogischen Vorstellung hervorgetreten. In seinem umfangreichen Buch Väterlicher Rath für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron, der erwachsenen weiblichen Jugend gewidmet von 1789 verficht er allerdings nicht etwa ein emanzipatorisches Weiblichkeitsideal, sondern vielmehr ein ausgesprochen konservatives. So erklärte er dort etwa, Frauen seien „geschaffen […] um beglückende Gattinnen, bildende Mütter und weise Vorsteherinnen des inneren Hauswesens zu werden“. Auch sei es

der übereinstimmende Wille der Natur und der menschlichen Gesellschaft, daß der Mann des Weibes Beschützer und Oberhaupt, das Weib hingegen die sich ihm anschmiegende, sich an ihm haltende und stützende teure, dankbare und folgsame Gefährtinn und Gehülfinn seines Lebens sein sollte.

„Die hohe und würdige Bestimmung“ der Frau bestehe daher darin, dem Mann „durch zärtliche Theilnehmung, Liebe, Pflege und Fürsorge das Leben [zu] versüßen […] und sein Haus zu einer Wohnung des Friedens und der Glückseligkeit [zu] machen“.

Das waren zu Campes Lebzeiten allerdings keineswegs ungewöhnliche Ansichten. Nicht viel anders hatte sich einige Jahrzehnte zuvor schon Jean Jaques Rousseau über das Geschlechterverhältnis ausgelassen, dessen „Erziehungsprinzipien“ Carl zufolge ebenfalls mit denjenigen Rudolphis „eng […] verbunden“ sind. In seinem Émile ou De l’éducation (1762) propagierte der pädagogisierende Schriftsteller am Beispiel der seinem Titelhelden zugedachten Braut Sophie ein Erziehungskonzept, das ganz auf die Sorge für das Wohlsein Émiles zugeschnitten ist. Seine nicht weniger als fünf leiblichen Kinder pflegte Rousseau allerdings gar nicht zu erziehen, sondern verfrachtete sie lieber in Findel- und Waisenhäuser.

Ebenfalls von „immense[r] geistesgeschichtliche[r] Wirkung“ sei die unglückliche Karoline Friederike Louise Maximiliane Günderrode (1780–1806) gewesen, wie Carl zweifellos zu Recht erklärt. So „steht“ sie denn auch „wie ein lyrischer Monolith im Schaffen der hier versammelten L(o)uisen“.

Anders als die bisher genannten Frauen tat sich Karoline Luise Friederike Marezoll (1792–1867) nicht zuletzt als Übersetzerin hervor. Zumal ihre Übertragung von Jane Austens Pride and Prejustice (1813) „von der Sprache und der Nähe zum Original her als wegweisend gelten darf“. Doch übertrug sie nicht nur einen der bedeutendsten Klassiker ins Deutsche, sie war auch „die erste Frau, die als Journalistin, Chefredakteurin bzw. Herausgeberin einer Zeitschrift auftrat“. Es war dies keine andere als die Frauenzeitschrift, mithin also die Vorläuferin der Frauen-Zeitschrift von Luise Otto-Peters (1819–1895), deren Name „in der ersten Reihe, wenn nicht an erster Stelle“ der Frauenbewegung des vorletzten Jahrhunderts stehe. Gilt sie Carl doch nicht weniger als deren „Mutter“.

Mit Louise Dittmar (1807–1884) stellt der Autor eine weitere „frühe radikale Frauenrechtlerin“ vor, die zudem in den Reihen der FrühsozialistInnen focht. Denn sie war eine „intellektuelle, scharfzüngige Kämpferin für eine Republik gleicher, freier Menschen, Frauen wie Männern“ und verfasste etliche

Schriften über die Ehe, die Selbstbestimmung der Frauen und die ‚tatsächliche Gleichstellung der Geschlechter’, über Religion, die Frage nach Gott sowie das wahre, hässliche Gesicht des ‚liberalen Bürgertums’.

 Die radikalste aller Feministinnen der ersten Stunde dürfte hierzulande allerdings Louise Aston (1814–1871) gewesen sein, „eine der mutigsten und selbstbewusstesten Frauen des 19. Jahrhunderts“ und „unter den Frauenrechtlerinnen wohl die einzige wirklich Freie“. Nicht nur darum sei sie „mit Recht […] der Liebling der feministischen Literaturwissenschaft“.

Weniger bekannt als diese Frauenrechtlerinnen und auch als ihr Bruder Arthur ist Luise Adelaide Lavinia Schopenhauer (1797–1849), die wunderbare Scherenschnitte schuf und ansonsten ihr (Liebes-)Leid einem „intimes Tagebuch“ klagte. Carl hat sich einen „ungeschriebene[n] Brief“ an ihren Bruder ausgedacht.

Mit einem nicht nur konservativen, sondern menschenfeindlichen Schopenhauerianer, der 1882 in einem dickleibigen Band über Willenswelt und Weltwille fabulierte, war die Feministin Frieda Sophie Luise Freiin von Bülow (1850–1909) liiert. Die Rede ist von Carl Peters, einem mörderischen Kolonisator Ostafrikas, der Ende des 19. Jahrhunderts aufgrund seiner Untaten gegen die indigene Bevölkerung von einem Kaiserlichen Disziplinargericht verurteilt und bald darauf unehrenhaft aus dem Kolonialdienst des deutschen Reichs entlassen wurde. Zwar erwähnt Carl die Freundschaft zwischen Bülow und Lou Andreas-Salomé, nicht aber die von den Freundinnen in der Zeitschrift Die Zukunft ausgetragene Kontroverse über die Frage, ob es eine spezifisch weibliche Ästhetik gibt und worin gegebenenfalls deren Distinktionsmerkmal gegenüber einer als männlich gedachten liegt. Andreas-Salomé, die von ihrer Zeitgenossin Hedwig Dohm den AntifeministInnen zugerechnet wurde, wird von Carl als „wichtige Stimme zum Beginn der Moderne, als Romanautorin und Erzählerin, aber auch als Kritikerin, Essayistin über Literatur und Philosophie sowie Psychoanalyse“ gewürdigt, die sich neben vielen anderen Verdiensten dasjenige zurechnen darf, mit ihrem Buch Friedrich Nietzsche in seinen Werken (1894) „in der Nietzsche-Rezeption bis heute wichtige Aspekte aufgedeckt“ zu haben. Neben Andreas-Salomés Nietzsche Kritik geht der Autor auf ihre Romane Im Kampf um Gott (1885) und Ródinka (1923) sowie auf ihren von Ernst Pfeiffer 1951 unter dem verfälschenden Titel Lebenserinnerungen herausgegebenen Nachlasstext Grundriss einiger Lebenserinnerungen ein.

Nicht alle der vorgestellten L(o)uisen sind der Erinnerung wert. Elisabeth Luise Auguste Gräfin von Flemming (1861–1925) war zwar eine der „in der Kaiserzeit populärsten Schriftstellerinnen“, unterhielt ihre „begeistert[en]“ LeserInnen jedoch mit „klischeebeladenen Unterhaltungsromanen“. Noch weit bedenklicher sind die „deutschnationale Antisemitin und völkische Rassistin“ Auguste Luise Supper (1867–1951) und Luise Elisabeth von Strauß und Torney (1873–1956), die im Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung zu den 89 SchriftstellerInnen zählte, die ein „Gelöbnis treuster Gefolgschaft“ für Adolf Hitler unterzeichneten. Dass Carl sie in seine umfangreiche Auswahl aufgenommen hat, ist dennoch gerechtfertigt. Waren doch auch solche Frauen unter den schreibenden L(o)uisen vertreten.

Ganz anders als die beiden zuletzt genannten ist hingegen Luise Charlotte Märten (1879–1970) zu beurteilen. War sie zunächst SPD-Mitglied, so trat sie zu Beginn der 1920er Jahre in KPD ein. „Während der Nazi-Zeit auf [das] Abstellgleis“ gestellt, war sie auch nach dem Krieg nicht wohlgelitten, und zwar in beiden deutschen Staaten. Der BRD war sie zu marxistisch, der DDR „zu wenig angepasst, zu unorthodox“. Mit ihr beschließt Carl seine Galerie schriftstellernder L(o)uisen.

Das Vorhaben des Autors, mit seiner „Präsentation eines Stückes kulturellen Erbes teilweise vergessener schreibender Frauen ein Desiderat zu füllen“, darf als rundum gelungen bezeichnet werden. Und wichtiger noch: Sein Buch könnte anregen, zu dem einen oder anderen Text dieser Frauen selbst zu greifen. Bei etlichen dürfte es sich lohnen.

Titelbild

Siegfried Carl: … immer Luise. Poetische Literaturgeschichten über Schriftstellerinnen des 18. bis frühen 20. Jahrhunderts.
Books on Demand, Norderstedt 2024.
296 Seiten , 33,33 EUR.
ISBN-13: 9783759721204

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