Frohes Fest?
Ein Sammelband von Andrea Geier, Irina Gradinari und Irmtraud Hnilica widmet sich Weihnachtsfilmen als Krisengeschichten
Von Thomas Wortmann
„Ja ist denn heut‘ schon Weihnachten?“ – mit dieser Frage warb Franz Beckenbauer um die Jahrtausendwende für die Angebote eines Mobilfunkanbieters. Die Frage des Kaisers ist inzwischen zum geflügelten Wort geworden, hat es als „Ausdruck der Freude oder des Erstaunens, vor allem über etwas Unerwartetes“ sogar zu einem Eintrag im Duden für Zitate und Redewendungen geschafft. Nimmt man die Wendung wörtlich, so ließe sie sich mit einem Blick auf das Kino-, vor allem aber das Fernseh- und Streamingprogramm beantworten. Denn dass schon Weihnachten ist, erkennt man, wenn Filme wie Der kleine Lord, Kevin allein zu Haus, Stirb langsam, Tatsächlich Liebe, Bridget Jones oder Sissi ausgestrahlt werden beziehungsweise in den Streamingcharts weit oben stehen.
Weihnachtsfilme, das haben die Herausgeberinnen Andrea Geier, Irina Gradinari und Irmtraud Hnilica schon mit dem ersten Weihnachtsfilme-lesen-Band aus dem Jahr 2023 gezeigt, können sich um das Fest der Feste drehen, müssen es aber nicht. Das prominenteste Beispiel dafür ist wohl Drei Haselnüsse für Aschenbrödel. Die Märchenadaption von Václav Vorlíček zeigt: Zum Weihnachtsfilm kann auch ein Film werden, der regelmäßig vor oder an Weihnachten gezeigt oder vom Publikum gestreamt wird. Neben dem Plot kann es also die ritualisierte Mediennutzung der Zuschauer*innen sein, die einen Film zum Weihnachtsfilm macht. Die Etikettierung als ‚Weihnachtsfilm‘ ist nicht zuletzt eine Lektüreentscheidung der Rezipient*innen – oder wie Peter Scheinpflug es im vorliegenden Band fasst: „Die Frage lautet […] nicht, ob ein Film ein ‚Weihnachtsfilm‘ ist, sondern ob es für eine Person sinnvoll und hilfreich ist, sich einen Film als ‚Weihnachtsfilm‘ anzueignen.“
Entsprechend groß ist das Korpus der Filme (und Serien) die potentiell als Weihnachtsfilme ‚gelesen‘ werden können. Die Beiträge des vorliegenden Bandes widmen sich expliziten Klassikern des Genres wie etwa Miracle on 34th Street oder It’s a wonderful Life, sie diskutieren Weihnachtsserien wie den ZDF-Klassiker Anna oder die Netflix-Serie Hjem til Jul, in den Blick kommen aber auch weniger ‚einschlägige‘ Beispiele wie etwa die Weihnachtsfolgen der Serie West Wing, Detlev Bucks Film Wir können nicht anders oder der Münster-Tatort Väterchen Frost aus dem Jahr 2019. Die Auseinandersetzung mit diesen Filmen und Serien eint, wie die Herausgeberinnen in der Einleitung erklären, das Interesse am Konnex von Weihnachten und Krise – in einem weiten Sinne: Krisenhaft kann Weihnachten für Liebesbeziehungen sein, für Familien und Freundschaften. Krisenhaft kann das Fest aber auch für ganze Gesellschaften erscheinen, wenn Weihnachtsfilme etwa vor dem Hintergrund von Kriegen spielen oder gar vom generellen Verfall der gesellschaftlichen Institution ‚Familie‘ handeln.
Thematisiert werden können vor der Folie des Weihnachtsfestes also soziale, ökonomische und politische Krisen, das Fest selbst wird dabei ambivalent inszeniert. Weihnachten kann – gängigen Zuschreibungen folgend – als Fest des Friedens alle Probleme lösen, der Heilige Abend bringt das Happy End, er führt Familien und Liebende zusammen, stiftet Versöhnung und Vergebung. Ende gut, alles gut: Weihnachtswunder! Ebenso sehr aber, und nach der Lektüre des Bandes ist man geneigt zu sagen: viel eher aber erscheint Weihnachten als Fest, an dem so eine Versöhnung als der Vergangenheit angehörend gezeigt und ins Reich der Nostalgie verschoben wird. Weihnachten ist nicht die Zeit des Friedens, sondern der Moment, in dem Konflikte zu Tage treten und Krisen sich zuspitzen – oder aber das Fest selbst ist in Gefahr und muss gerettet werden.
Ein besonders schönes Beispiel dafür bespricht Nikolas Immer in seinem Beitrag zu dem Film Santa Claus conquers the Martians aus dem Jahr 1964, der nicht nur in einem übertragenen Sinne von einer ‚Eroberung‘ der Marsianer durch den Weihnachtsmann handelt, sondern vielmehr von der Entführung Santa Claus‘ durch die Marsbewohner erzählt. Um das Weihnachtsfest zu retten, wird eine Rettungsmission initiiert. Diesen Film nicht zu kennen, ist wohl keine Bildungslücke: Santa Claus conquers the Martians ist wiederholt auf die Liste der schlechtesten Weihnachtsfilme aller Zeiten gewählt worden – und das obwohl hier, wie man lernt, Mrs. Santa Claus den ersten Auftritt in der Filmgeschichte hat. Nach der Lektüre von Immers Aufsatz hat man jedoch das Gefühl, den Film unbedingt sehen zu müssen. Der Leipziger Germanist liest den Film als Reaktion auf die weltpolitischen Verhältnisse seiner Entstehungszeit: Das Rennen zum Mars korrespondiert mit dem space race der 1960er Jahre zwischen der Sowjetunion und den USA, die Entführung des Weihnachtsmanns sorgt jedoch dafür, dass die politische Blockbildung aufgehoben und die ganze Welt sich gemeinsam um die Rettung des Weihnachtsfestes bemüht – freilich, immerhin sind wir in Hollywood, unter Führung der USA. Dieses politische Moment der filmischen Auseinandersetzung mit dem Weihnachtsfest arbeiten auch andere Beiträge des Bandes heraus: Zu nennen ist hier beispielsweise Johannes Pauses Lektüre von George Seatons Miracle on 34th Street als Auseinandersetzung mit dem populistischen Hollywoodkino der 1930er Jahre. In Seatons Film, so Pause, werde der Weihnachtsmann zur Personifikation einer imaginären Dimension der Politik, bei der es weniger um Wissen als um Glauben geht.
Den körper- und geschlechterpolitischen Aspekten des Weihnachtsfilms widmen sich Andrea Geier, Lena Koseck und Peter Scheinpflug. Geier zeigt in ihrem Beitrag zur ZDF-Weihnachtsserie Anna, wie Behinderung thematisiert, allerdings nur mit Blick auf ein individuelles Schicksal im Sinne einer ‚fröhlichen Affirmation‘ in Szene gesetzt wird, ohne dabei auf soziale und gesellschaftliche Strukturen einzugehen, durch die dis-ability konstituiert wird. Koseck wiederum widmet sich der Inszenierung von Geschlecht in den Filmen des Hallmark-Channels, des unangefochtenen Marktführers im Bereich Weihnachtsfilme. Sie arbeitet heraus, wie diese Filme von den Krisen ihrer Protagonistinnen erzählen (im Job, in der Beziehung), die zu überwinden sind, indem man Partner und/oder Job sowie die (Groß-)Stadt verlässt, in der man sich die Probleme und die falschen Partner überhaupt erst eingehandelt hat. Für das Fest geht es also (zurück) aufs Land respektive in die Kleinstadt. Dort findet die Protagonistin, fast ist man an Plotmuster des Heimatfilms erinnert, neben Weihnachtsbäumen und unter Mistelzweigen ihr privates Glück, das in den meisten Fällen – ist man überrascht? – ein neuer Mann ist. Apropos Heimat und Weihnachten: Peter Scheinpflug diskutiert am Beispiel des Tatorts Väterchen Frost und dem Heimatfernsehfilm Frühling: Weihnachtswunder, wie der Weihnachtsmann den Vaterfiguren dazu dient, ihr vorheriges Versagen als Familienoberhaupt zu verarbeiten und sich als schützende Patriarchen zu etablieren.
„Die generischen Elemente des Weihnachtsfilms“, so liest man in der Einleitung von Weihnachtsfilme lesen II, „verlangen […] vom Krisennarrativ einen positiven Ausgang.“ Und weiter: „Das Wunschszenario Weihnachten soll sich als stärker erweisen als die Bedrohung, die das Fest zu zerstören droht.“ Die Beiträge des Bandes zeigen auf wunderbare Weise, dass viele der Filme und Serien sich diesem Programm entziehen. Über das programmatisch in den Titel des Bandes gehobene, in allen Beiträgen sympathisch ernst genommenen ‚Lesen‘, über den kulturwissenschaftlichen, teilweise auch den cultural studies verpflichteten Zugriff zeigen sich eindrücklich die Verwerfungen, die den Handlungsbögen, den Figurenzeichnungen, den Schlusskonfigurationen jeweils eingeschrieben sind. Weihnachten, so fassen es die Herausgeberinnen in ihrer Einführung pointiert, erweist sich als Decknarrativ, und die Autor*innen des Bandes sezieren in ihren Beiträgen die Faktur dieses Decknarrativs genau. Vielleicht ist es kein Zufall, dass in vielen der besprochenen Filme und Serien das Lied It’s the most wonderful time of the year vorkommt – und im Verlauf der Handlung wiederholt zu hören ist. Nach der Lektüre des Bandes ist einem klar: Dass Weihnachten nicht nur eine wunderbare, sondern gar die wunderbarste Zeit des Jahres ist, muss man gleich mehrmals sagen, damit man es glauben kann.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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