Ein überirdischer Alltag
Samantha Harvey bewundert in ihrem Roman „Umlaufbahnen“ die Erde aus schwindelerregender Höhe
Von Michael Fassel
Vier Männer und zwei Frauen erwarten auf einer Raumkapsel atemberaubende Bilder: Sechzehn Mal am Tag umkreisen sie die Erde, erleben genauso viele Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge. Das internationale Team beobachtet einen sich zusammenbrauenden Taifun, bewundert die blau leuchtende Kugel mit ihren riesigen Ozeanen, blickt auf facettenreiche Landschaften, Küsten und Gletschergebiete. Die britische Autorin Samantha Harvey präsentiert in ihrem mit dem Booker Prize ausgezeichneten Roman Umlaufbahnen ungewöhnliche Perspektiven. Besonders imposant sind die Farbschauspiele, die die Erde ihnen darbietet. Nuanciert bringt die Schriftstellerin auf literarisch unvergleichliche Weise die Oberfläche der Erde nahe: „Die vom Tag erhellte Inselhälfte liegt üppig grün und drachenartig da, die Berge sagenhaft im späten Licht, die Küsten umrissen von biolumineszenten Ufern.“ Harvey beschreibt überdies etwa das farbenfrohe Spiel von Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, die wirbelnden Wolkenformationen in gekonnten Worten oder die leuchtenden Eisschollen.
Das Team der Raumstation steht vor der Herausforderung, die Zeit als relative Einheit kennenzulernen: „Der Weltraum zerschreddert die Zeit.“ Insofern ist die Besatzung angehalten, sich angesichts der sechzehn Erdumrundungen an der Uhr mit dem Tagesrhythmus von vierundzwanzig Stunden zu orientieren, um Irritationen zu vermeiden. Obgleich keine klassische Handlung vorliegt und Unspektakuläres in der Raumkapsel geschieht, liest sich der Roman ausgesprochen spannend. Das liegt zum einen an der literarischen Ausgestaltung der Alltagssituationen. So beschreibt die Schriftstellerin, wie gewöhnliche Handlungsweisen wie beispielsweise die Nahrungsaufnahme oder das Entsorgen von Zahnpastatuben und Fingernägeln ohne Schwerkraft möglich sind und welche Strategien das internationale Weltraumteam nutzt, um Nudeln zu essen oder Zähne zu putzen. Ein überirdischer Alltag, wenn man so möchte. Zum anderen gelingt es Harvey, die Welt aus einer buchstäblich schwindelerregenden Höhe zu betrachten. Gleichzeitig überzeugt die Beschreibung des engen Raumes auf der Kapsel, in dem die Menschen mehr oder weniger gefangen sind. Denn draußen herrscht die Bedrohung des Alls: „Es ist die reinste radioaktive Suppe da draußen, und würden ihre Schutzschilde versagen, wär’s aus mit ihnen, das wissen sie.“ Das Forschungsteam befindet sich im Spannungsverhältnis von unendlicher Weite und engstem Raum.
Bedrohlich aber ist nicht die unendliche und schier unvorstellbare Weite des Weltalls. Vielmehr schafft der sich zusammenbrauende Taifun vor den Philippinen ein Bedrohungsszenario, von dem das Team weit entfernt ist. Im Gegensatz zu den Menschen auf den Philippinen, die just in diesem Moment Opfer des Supertaifuns werden, so jedenfalls die Gedanken des Teams, bewundert es fasziniert und zugleich sorgenvoll das Naturschauspiel des tropischen Wirbelsturms. Der Klimawandel ist im Bewusstsein präsent, der weltweit Konsequenzen mit sich zieht. Und trotz dieser olympischen Perspektive sind die Menschen auf der Raumstation angesichts zahlreicher Naturkatastrophen und Kriege hilflos. Verhindern können sie in der Kapsel nichts, aber sie können wertvolle Aufnahmen zu Forschungszwecken machen.
Das ständige Gefühl, der Schwerkraft entzogen zu sein, lässt sich bei der Lektüre des Romans tatsächlich nachempfinden. Der Aufenthalt im Weltall ist Fluch und Segen zugleich: Einerseits empfindet das Team Sehnsucht, wieder zur Erde zurückzukehren, andererseits möchte es sich von diesem speziellen Freiheitsgefühl der Unendlichkeit nicht mehr lösen. Samantha Harvey findet für die Zeit im Weltall die passenden Worte: „Brutal ist das Leben hier, unmenschlich, überwältigend, einsam, außergewöhnlich und großartig.“ Zugleich spürt man bei der Lektüre ebenso die Höhe weit über der Erde wie auch die Enge der Raumkapsel. Der Globus wirkt robust, aber auch zerbrechlich. Vieles erscheint paradox, widersprüchlich. Für die einen sind die Unermesslichkeit des Alls und die fernen Galaxien ein Beweis für Gott, für andere der Gegenbeweis: „Wie soll das alles da hingekommen sein, wenn nicht durch einen wundervollen Willen?“, fragt der gläubige Shaun seine Kollegin Nell, die das Weltall als eine Laune der Natur betrachtet, während er es als schöpferisches Kunstwerk sieht.
Der Roman tangiert unaufdringlich viele existenzielle Fragen, ohne zu einem philosophischen Traktat zu werden. Vielmehr deutet Samantha Harvey durch ihre Figuren Reflexionen über die großen Themen Leben und Tod an. Die sechsköpfige Besatzung ist keinesfalls farblos angesichts der vielen Weltbeschreibungen. So gibt es hin und wieder Zwiegespräche zwischen den Charakteren und Einblicke in persönliche Glaubensfragen. Was dabei rauskommt, ist eine Hymne an die Erde.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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