Die Entstehung des Patriarchats
Karin Bojs’ Sachbuch „Mütter Europas“ zeigt, wie neue Forschungsmöglichkeiten archäologische Erkenntnisse von Grund auf verändern
Von Rolf Löchel
Wann und wie das Patriarchat entstand, ist eine uralte Frage. Mythen aus aller Welt erzählen seit Jahrtausenden davon, wie mächtige Muttergöttinnen dereinst von männlichen Göttern entthront wurden. An die Stelle der Mythen sind längst wissenschaftliche Theorien getreten. Im 19. Jahrhundert erschien Johann Jakob Bachofens Buch Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur (1861), das zwar ziemlich spekulativ war, dessen Wirkung aber bis ins folgende Jahrhundert hineinreichte. Faktenbasierter und ebenso wirkmächtig waren die beiden bedeutendsten Untersuchungen des 20. Jahrhunderts: Ernest Bornemanns Das Patriarchat. Ursprung und Zukunft unseres Gesellschaftssystems (1975) und The Creation of Patriarchy (1986) der feministischen Historikerin Gerda Lerner.
Seither hat sich viel getan. Sowohl die Forschungsmethoden als auch die technischen Möglichkeiten haben bedeutende Fortschritte erzielt und zu so manchem Paradigmenwechsel geführt. Zum einen greift die Archäologie heutzutage auf Forschungsergebnisse verschiedener andere wissenschaftlicher Disziplinen bis hin zur Linguistik zurück und zum zweiten revolutionieren neue Forschungsinstrumente wie etwa Rastertunnelmikroskope und vor allem die DNA-Analyse das Wissen um die menschliche Frühgeschichte.
Sie alle fließen in das jüngst erschienene Sachbuch über die Mütter Europas der schwedischen Wissenschaftsjournalistin Karin Bojs ein, das sich dem Untertitel zufolge mit den letzten 43 000 Jahren der Menschheitsgeschichte befasst, tatsächlich aber nicht weniger als die gut 300 000 Jahre beleuchtet, seit denen der Homo Sapiens auf der Erde wandelt. So kann sie etwa unter Bezugnahme auf DNA-Analysen konstatieren, dass „alle Menschen auf der Welt […] ihre grade Mütterlinie bis zu einer Frau zurück verfolgen [können], die vor zirka 200 000 Jahren irgendwo in Afrika lebte“.
Diesen gewaltigen Zeitraum ebenso instruktiv wie – so scheint es zumindest – umfassend auf rund 250 Seiten zu behandeln, ist schon eine Leistung – zumal Bojs zu Beginn des Buches sogar vier Millionen Jahre in die Vergangenheit blickt und den Lesenden die Hominiden Ardi sowie die weit bekanntere Lucy vorstellt. Entsprechend hoch ist die Informationsdichte des vorliegenden Textes.
Selbstverständlich geht die Autorin auch auf die Neandertaler ein, deren DNA-Zweig sich etwa vor 650 000 Jahren entwickelte. Nachdem sie einige hunderttausend Jahre die dominierende hominide Spezies in Europa waren, starben sie innerhalb kürzester Zeit aus. Die Gründe hierfür liegen nach wie vor im Dunkeln, dürften aber mit dem Auftauchen des Homo Sapiens zusammenhängen. Jedenfalls ist der jüngste den Neandertalern zuzurechnende Fund 39 000 Jahre alt. Zu den „Faktoren“ die beide Spezies deutlich voneinander unterschieden zählt, dass nur der Homo Sapiens „Musik, gegenständliche Kunst und Schmuck“ schuf. Zumindest wurden bislang keine einschlägigen Artefakte von Neandertalern – wie etwa Flöten – gefunden.
Zwar bekamen Neandertaler und Homo Sapiens gelegentlich gemeinsame Nachkommen, dies geschah jedoch offenbar nur selten. Wie DNA-Analysen zeigen, waren die Väter stets Neandertaler, die Mütter Menschen. Die Autorin vermutet, dass der Grund hierfür in der wesentlich größeren Kraft der NeandertalerInnen lag, deren Männer menschliche Frauen überwältigen und vergewaltigen konnten, was Menschenmänner aus eben diesem Grund Neadertalerinnen nicht antun konnten.
Im Zentrum des mit 20 farbigen Abbildungen ausgestatteten Buches steht allerdings die „Bevölkerungsgeschichte Europas“ der letzten gut 30 000 Jahre, wobei die Autorin einen „besondere[n] Fokus“ auf unsere weiblichen Vorfahren richtet. Dabei zeigt sie etwa, wann, wie und warum der Mensch nach heutigem Kenntnisstand während der letzten Eiszeit auf den Hund kam, dass es „Aufgabe der Frauen [war], sich um Welpen zu kümmern“, oder warum sich „in der schwachen Sonne des Norden“ bei den Menschen eine hellere Haut durchsetzte. Die Ursache war vermutlich, dass Menschen mit dunkler Haut das geringe Sonnenlicht nördlicher Grade nicht in genügend Vitamin D umwandeln konnten. Dies führte zu Rachitis und zu „deformierte[n] Beckenknochen“, sodass viele dunkelhäutige Frauen „bei ihrer ersten Entbindung qualvolle Tode starben“. Hingegen hatten „Frauen mit hellerer Haut […] größere Chancen zu überleben und sich um ihre Kinder zu kümmern“.
Vor allem aber erläutert die Autorin, welche Faktoren eine Rolle dabei spielten, dass die Archäologie bis in die jüngste Zeit hinein Ergebnisse lieferte, die zugunsten der Männer verzerrt waren. Einmal ist es den jeweils zeitgenössischen Geschlechterideologien in den Gesellschaften der Forschenden anzulasten, zum anderen aber auch den objektiven Möglichkeiten, die sich ihnen boten. Denn die von Männern benutzten Stein- und später Metallwerkzeuge bleiben erhalten, während Stoffe, die von Frauen hergestellt wurden, längst zerfallen sind. Erst in jüngerer Zeit gestatten es die fortgeschrittenen technischen Möglichkeiten auch letztere zu analysieren und so ihre Bedeutung für die damaligen Gesellschaften deutlich werden zu lassen. Hierzu zählen etwa „akribische Mikroskopstudien von Tonfragmenten, auf denen sich lange verrottete Textilfasern abzeichnen“. Es war die Anthropologin und Entdeckerin von Textilabdrücken auf 30 000 alten Tonscherben Olga Soffer, die in den 90ern als erste auf diese Schlagseite „zugunsten der Männer“ hinwies.
Doch war die Forschung der archäologischen Anthropologie bis in die jüngste Zeit hinein nicht nur hinsichtlich der Geschlechterverhältnisse verzerrt, auch die in den 1820er Jahren von Christian Jürgensen Thomsen aufgrund der damals bekannten Stein- und Metall-Artefakte eingeführte Einteilung in Steinzeit, Bronzezeit und Eisenzeit ist der Autorin zufolge „völlig überholt“. Bojs schlägt stattdessen eine dreiteilige Gliederung in „Jäger-, Fischer- und Sammlerzeit“, sodann „Bauernzeit Alteuropas“ und schließlich „indoeuropäische Zeit“ vor, wobei die Unterscheidung zwischen den beiden letzten weiter „nuanciert“ werden könne.
Wichtig sei aber vor allem, „dass Jäger und Bauern in ganz unterschiedlichen Einwanderungswellen nach Europa kamen“. Insgesamt waren es drei große Wanderbewegungen, deren erste bereits vor mehr als 30 000 erfolgte. Damals kamen erst JägerInnen „aus verschiedenen Richtungen“ nach Europa, dann folgten Landwirtschaft betreibende Menschen, „die vor gut 8000 Jahren aus Anatolien eintrafen“, und schließlich IndoeuropäerInnen, die vor nicht ganz 5000 Jahren aus den Steppen Russlands und der Ukraine nach Mitteleuropa zogen.
Eine „dramatische“ Veränderung der Weltgeschichte vollzog sich vor etwa 11 500 Jahren, „als die Jägersteinzeit in die Bauernsteinzeit überging“. Denn mit der Erfindung der Landwirtschaft in Anatolien „begann eine neue Zeit mit neuen Geschlechterrollen“. Das ist soweit eine schon seit längerem bekannte Erkenntnis, die darauf beruht, „dass es kaum eine Arbeitsaufgabe gibt, die weltweit so deutlich geschlechtsspezifisch ist wie das Mahlen mit Handmühlen“, das zum Aufgabengebiet der Frauen gehörte. Es dauerte allerdings noch etwas länger, bis vor etwa 8 600 Jahren die ebenfalls von Frauen gepflegte Milchwirtschaft eingeführt wurde. Diese gewann erst an Bedeutung, als es den Frauen gelang, aus der Milch Käse herzustellen. Denn erwachsene Menschen waren laktoseintolerant. Daher konnten sie zwar keine Milch trinken, wohl aber Käse essen. Trotz der damaligen geschlechterspezifischen Arbeitsteilung scheinen „dominierende patrilineare Systeme […] in der frühen Bauerngesellschaft Anatoliens nicht Standard gewesen zu sein.“ Sie entwickelten sich erst mit und nach der dritten Einwanderungswelle. Denn neuere Forschungen liefern Hinweise darauf, dass die „indoeuropäische Einwanderungswelle“ vor etwa 5000 Jahren die bisher bereits bestehende Bauernkultur „stark dezimiert[e] und []schwächt[e]“, bis sie schließlich „ganz Europa“ übernahm. Sie war es, die „eine Kultur mit sich brachte, die stark auf Väter und väterliche Linien ausgerichtet war“. Dass, wie früher angenommen und von interessierter Seite noch immer behauptet wird, „die Indoeuropäer […] ihren Ursprung auf der indischen Halbinsel [haben]“, ist inzwischen durch DNA-Analysen „eindeutig“ widerlegt. Tatsächlich kamen die IndoeuropäerInnen aus dem Gebiet nördlich des Schwarzen Meeres und aus im heutigen Russland gelegenen Steppen nach Europa. Von dort breiteten sie sich bis auf die indische Halbinsel aus – und nicht umgekehrt.
Als „Wiege der europäischen Zivilisation“ macht die Autorin die auf dem Balkan gelegene und mehrere Tausend Einwohner beherbergende Stadt Vinča aus, die vor 7000 Jahren „das Zentrum der Kultur“ bildete. Dort wurde nicht nur die Metallurgie erfunden, sie ist auch insofern bedeutend, als sie „Zeichen“ verwendete, „die wahrscheinlich die erste bekannte Schriftsprache der Welt bildeten“.
Die Metallurgie wurde in Vinča gemeinsam mit der Herstellung von Keramik entwickelt, die in den Händen von Frauen lag. Das lässt der Autorin zufolge vermuten, dass diese auch „in höchstem Grad“ an der Entwicklung der Metallurgie „beteiligt waren und vielleicht die wichtigste Rolle dabei spielten“. Auch in der Vinča-Kultur scheint die Gleichstellung der Geschlechter „mit großen Freiräumen für Frauen“ üblich gewesen zu sein.
Die Entstehung der Geschlechterhierarchie entstand der Autorin zufolge erst „viel später“ und ging mit der sich entwickelnden Hierarchisierung der Gesellschaft in reiche und weniger reiche, mächtige und weniger mächtige Männer einher. Ursächlich für die Entstehung „große[r] Klassenunterschiede“ waren drei Erfindungen in den Jahren zwischen 5400 und 5700 vor unserer Zeit: der Pflug, das Rinderjoch und das Rad. Denn vor allem für das Pflügen war so viel Kraft vonnöten, dass nur Männer es bewältigen konnten, sodass sie gesellschaftlich wichtiger wurden. Mindestens ebenso wichtig war aber die nun in größerem Maße stattfindende „Gewinnung von Salz“, das mit der Erfindung des Rades über größere Strecken transportiert werden konnte und zur begehrten Handelsware wurde. Es bildeten sich „gesellschaftliche Schichten“ heraus und auch die Gleichstellung der Geschlechter nahm ab. Der Reichtum einzelner Familien oder Clans dieser Zeit wird durch monumentale Megalithgräber belegt, von denen vor etwa 5500 Jahren etliche Tausend errichtet wurden. Dass diese Familien patrilinear organisiert waren, belegen DNA-Analysen. Denn in den Gräbern fand man zwar Gebeine von Vätern und Söhnen „mehrerer Generationen“ mit ihren Ehefrauen, nicht aber von Töchtern.
Im abschließenden Kapitel geht die Autorin auf die Wikinger-Kultur ein und hier insbesondere auf einen Grabfund in der Wikingerstadt Birka, der 2017 bis in die Medien hinein hohe Wellen schlug. Wie die DNA-Analyse der Knochen zeigte, war dort eine Frau bestattet worden. Aus den Grabbeigaben, zu denen Waffen gehörten, wurde geschlossen, dass die Tote „zu den hochrangigen Kriegern der Wikinger gehört hatte“, also eine Schildmaid gewesen war. Das entsprach der Autorin zufolge dem feministischen Zeitgeist, wurde jedoch schon bald von verschiedener Seite bestritten. So hieß es etwa, die „Kisten mit Skelettteilen aus Birka [seien] verwechselt und falsch beschriftet worden“. Die Literaturhistorikerin Jóhanna Katrin Fridriksdóttir wiederum stellt ganz gemäß der den Feminismus an Popularität längst überflügelnden Queer Theory in Frage, dass es sich bei der Toten überhaupt um eine Frau handelt, denn ein „Individuum, das in rein genetischer Hinsicht eine Frau ist, also über zwei X-Chromosomen verfügt“, werde nicht unbedingt „auch von sich selbst und der Umgebung als Frau wahrgenommen“.
Bojs selbst steht der Annahme, dass es Kriegerinnen unter den Wikingern gegeben habe, skeptisch gegenüber und verweist darauf, dass der Begriff Wikinger „eher einen Beruf als eine geographische Herkunft“ bezeichnet. Sie waren also keineswegs ein Volk, sondern seefahrende Händler, die bis nach Kanada vordrangen. Ihre Handelsware bestand insbesondere aus SklavInnen, wobei die Schiffsbesatzungen und Händler „junge Sklavenfrauen“ vor dem Verkauf tagelang zu vergewaltigen pflegten und anschließend auch schon einmal, statt sie zu verkaufen zu Tode folterten, wie der arabische Diplomat und Augenzeuge Ahmad ibn Fadlan berichtet. Das spricht nicht eben dafür, dass Frauen bei ihnen in hohem Ansehen standen.
Bojs trägt dies wie alle ihre Ausführungen nie apodiktisch vor. Auch referiert sie stets Forschungsansichten und Interpretationen, die sie nicht teilt. Überdies zeichnet das Buch aus, dass es der einen oder anderen zu Lebzeiten geschmähten und/oder heute vergessenen Forscherin wie Marija Gimbutas oder Zsófia Torma postum zu ihrem Recht verhilft, indem es zeigt, wo sie entgegen der zu ihrer Zeit vorherrschenden Lehrmeinung ihrer männlichen KollegeInnen Recht behalten haben.
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