Kunst und Krankheit
Ulrich Horstmanns diagnostische Lektüren
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Apokalypse preist Ulrich Horstmann, der ehedem die Geißel über dem "Untier" Mensch schwang und das anthropofugale Denken entwickelte, schon lange nicht mehr. Der einstige Propagandist des Weltuntergangs hat sich selbst zum Kultur- und Zeitkritiker domestiziert, der - mit Celine - beklagt, "daß es mit Wesen, wie wir es sind, nicht gut gehen konnte und nicht gut werden wird". Immerhin, kein Fünkchen Trost mag Horstmann spenden. "Kein Fünkchen! Denn wir sitzen auf dem Pulverfaß." Zu Zeiten des Untiers hätte er hingegen vielleicht bedauert, dass das Pulver feucht geworden ist.
Geblieben ist ihm jedenfalls die eloquente Scharfzüngigkeit, die seine Schriften schon immer auszeichnete, wie einige der Texte seiner jüngst publizierten Essaysammlung "Abdrift" unter Beweis stellen. Auch hat er sich den melancholischen Gestus bewahrt. Doch bleibt man seltsam unberührt, als sei da nichts Neues unter der schwarzen Sonne.
Der Melancholicus tritt jedoch nicht nur hinter dem Zeit- und Gesellschaftskritiker zurück, sondern mehr noch hinter dem Anglisten. Ein Gutteil der 15 Texte befasst sich mit angloamerikanischen Literaten, wie dem "Kunsttrinker" Jack London, Thomas Morus, den Horstmann originellerweise und vielleicht nicht ganz ohne Grund als Antiutopisten interpretiert, Daniel Defoe, dessen "Robinson Crusoe" er einer "konspirativen Lektüre" unterzieht und Richard Burton, bei dem der Autor sich möglicherweise mit der Englischen Krankheit infiziert hat - von der er sich nun mittels seiner Profession Heilung verspricht. Doch nein, der Patient will gar nicht geheilt werden, weiß er doch nur zu genau, dass es sich bei seinem 'Spleen' um keine Krankheit handelt.
In den ersten Essays wird das gerade verstrichene Jahrhundert ins Auge gefasst. Nun ist das angesichts des jüngst vollzogenen Millenniumswechsels zwar verständlich, doch kann das natürlich ironisierende "Hohelied auf das 20. Jahrhundert" zwar tief in die Geschichte zurückgehen, allerdings wegen der Beschränkung auf gerade mal 15 Seiten nicht allzu tief in die 'Materie' hinein.
Einer der längsten Texte gilt jedoch weder dem zu Ende gegangenen Millennium noch einem englischen Literaten, sondern einem deutschen Aphoristiker, der gar nicht so gerne Deutscher war - Friedrich Nietzsche. Wie stets reizt Horstmann auch hier die Lust am Widerspruch, abseits der Hauptströmungen zu denken. Das kann natürlich nicht immer gut gehen, und an einer eher beiläufigen Stelle gerät Horstmann unversehens in ihm sicher ganz und gar unliebsame Gesellschaft: nachdem er zunächst konstatiert, dass Theodor Lessing zu denjenigen gehörte, die einen "risikofreudigen Umgang" mit dem "Dynamit" des Kopfes Nietzsche pflegten und forderten, schreibt er: "Acht Jahre später wurde der Zündstoff, den Lessing nicht aus Nietzsches Werk entfernt wissen wollte, erneut ausprobiert - an Theodor Lessing selbst. Am 30. August 1933 erschossen ihn in seinem Marienbader Exil ganz unakademische Nietzsche-Anhänger, die 'blonden Bestien' des Nationalsozialismus." Das ist nicht nur inhaltlich insofern unzutreffend, als die von Nietzsche imaginierte "blonde Bestie" nichts mit dem 'Arier' der Nazis zu tun hatte, sondern erinnert - weit schlimmer - fatal an das "Selber schuld!", das Juden mit Blick auf die Konzentrationslager zugerufen wurde und wird.
Was Nietzsche selbst betrifft, so versucht Horstmann zweifellos, ihn zu entzaubern und die 'hanswurstige' Seite seiner Existenz aufzuzeigen; etwa indem er spottet, Nietzsche sei ein "möblierter Herr als Übermensch" gewesen. Doch überschätzt, wie so viele, auch Horstmann Nietzsche. Ihm, der allenfalls ein wenig in der Philosophiegeschichte umherirrlichterte und sich mit keinem Philosophen tiefergehend oder gar systematisch befasste, eine "epochale Abrechnung mit den Sinngarantien der abendländischen, der logozentrischen Philosophiegeschichte" zuzusprechen, die eine "Pioniertat ohne gleichen" gewesen sei, tut Nietzsche nun wahrhaftig zu viel der Ehre an. Hatte nicht schon vor weit mehr als 2000 Jahren Kohelet erkannt, dass alles eitel ist und hatte nicht bereits Schopenhauer den Logos zum Wasserträger des Willens degradiert? Wenn Horstmann Nietzsche "philosophische Vorstöße an die Grenze des Denkbaren" konzediert, so scheint uns eher, dass seine Ideen bereits an den Grenzen des Aphoristischen ihr Ende fanden. Nietzsches Prosa schließlich, die, wie Horstmann schreibt, "einem den Atem verschlägt", scheint vor allem Nietzsche selbst den Atem verschlagen zu haben. Das würde zumindest sein häufiges Stammeln und Stottern erklären, das sich immer wieder in Gedankenstrichen, Auslassungspunkten, abgebrochenen und unvollendeten Sätzen dokumentiert.
Doch eigentlich will Horstmann auf die zahlreichen Selbstbezichtigungen Nietzsches als "Hanswurst" hinweisen, auf seine von den Interpreten vernachlässigte "Narrenstimme", die Horstmann mit einer Reihe von Zitaten zu Wort kommen lässt. Weit mehr aber als mit seinen Hanswurstiaden hat Nietzsche sich mit dem zum Narren gemacht, womit ihm bitter ernst war: mit seiner Megalomanie.
Der vielleicht gelungenste Text des Bandes handelt jedoch von Medizinern. Und man findet Horstmann in ihm über weite Strecken ungewohnt ernst. Dass er mit den Worten "Worauf ich hinaus will, ist" anhebt, sich selbst zu erklären, würde man von ihm genauso wenig erwarten wie etwa von Derrida, mit dem er ansonsten wenig gemein hat. Die Rede ist von dem Essay "Liebes Ableben". In ihm stellt Horstmann nicht nur die Errungenschaften der Medizin in Frage, sondern überhaupt ihr Ringen mit Krankheit und Tod. Zu Recht weist er auf die ebenso banale wie offenbar gerne übersehene Tatsache hin, dass die Mortalitätsrate trotz aller medizinischer Erfolge noch immer 100 % beträgt. Es ist aber nicht nur so, dass die Medizin hieran nichts zu ändern vermochte, auch waren die Krankheiten, die sie "in den Griff bekommen hat", "gleichsam die einfacher gestrickten". Sie gewährten "ihrer Natur gemäß meist auch einen unkomplizierten, schnellen, 'gnädigen' Tod". Doch die schönen Zeiten, in denen die Menschen mit Hilfe von Cholera, einer Blutvergiftung oder des 'Schlags' einen schnellen und also leichten Tod fanden, sind mit dem Fortschritt der Medizin perdu. Stattdessen sehen sich immer mehr alte und kranke Menschen "zu einer endlosen Tortur verurteilt, geraten in das greuliche Wechselbad der Hoffnung wider besseres Wissen, finden sich in einem diesseitigen Inferno wieder, wo der Teufel und Beelzebub Schichtdienst leisten." Die Frage, ob die Medizin sich vielleicht vielmehr darauf konzentrieren sollte, einen angenehmeren Tod zu ermöglichen, statt ein elendes Leben zu verlängern, liegt angesichts dieser Erkenntnisse nahe. Doch wer wollte noch leben, wenn das Sterben seinen Schrecken verlöre.
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