Vermissen, ohne zu fragen

Raymond Carver setzt Amerikas Outcasts ein Denkmal

Von Christoph Schmitt-MaaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Schmitt-Maaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nun also wird es spannend. Nicht, dass sich Carver in seinem jetzt in Deutschland herausgegebenen dritten Erzählband einem anderen Sujet als der sozialkritischen Short Story widmen würde. Vielmehr verbleibt er im bisher sondierten Terrain, gewinnt ihm aber entscheidende neue Facetten ab. Denn: "Kathedrale" ist der erste Erzählband, der nicht von Gordon Lish lektoriert wurde.

Böse Stimmen behaupteten wiederholt, dass Lish der eigentliche Urheber der Carverschen Erzählkunst sei, denn er habe die Texte so gründlich gekürzt, dass alle Anteilnahme der Figuren getilgt worden sei. Auffällig ist vor allem der Umfang der Erzählungen. Im Gegensatz zu den früheren Bänden ist die einzelne Geschichte länger, und der längere Entwicklungszeitraum gibt den Figuren mehr Zeit, sich zu entfalten. Die Zwischentöne treten deutlich nuancierter hervor; die Brüche, sind nicht mehr so abrupt wie früher, aber noch genauso erbarmungslos.

Nicht nur Verlust, vorläufige Untergänge und Trennungen sind die Themen, die Carvers Geschichten beherrschen. Es gibt auch Momente, in denen das Glück durchschimmert, in denen die Alltäglichkeit zur stillen Zuflucht gerinnt. Es scheint, als hätte Carver in seinem dritten Erzählband die Überwindung seiner Alkoholsucht - die auch im Buch thematisiert wird - und seine zweite Ehe mit zwar bitterer, weil der Realität verpflichteten, aber dennoch tröstlichen Prosa gefeiert.

Auf faszinierende Weise lässt sich dies in der Geschichte über eine Geburtstagstorte und einen Autounfall nachvollziehen. Carver erzählt sie zweimal: Die Erstveröffentlichung in "Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden" unter dem Titel "Das Bad", die Wiederaufnahme in der "Kathedrale": "Eine kleine, gute Sache". Gerade die letzte Version berührt am unmittelbarsten, vielleicht weil sie am subtilsten die Hilflosigkeit ihrer Protagonisten zum Ausdruck bringt. Als der achtjährige Scotty im Krankenhaus stirbt, und der Arzt die Mutter zum Gehen drängt, sagt sie " 'Nein, nein [...], ich kann ihn hier nicht allein lassen, nein.' Sie hörte sich das sagen und dachte, wie ungerecht es war, dass die einzigen Worte, die ihr über die Lippen kamen, von der Art der Wörter waren, die in Fernsehsendungen benutzt wurden. [...] Sie wollte, dass ihre Worte ihre eigenen Worte waren."

Damit durchbricht Carver die Routine, die sich schon in manche seiner Geschichten geschlichen hatte. Ihrer Momenthaftigkeit beraubt er sie dadurch nicht. Das verdankt sich vor allem der Erzählweise. Carver geht es nie um das Sichtbare. Die Sprache ist ungekünstelt, mehr denn je steht er außerhalb seiner Geschichten. Dafür verleiht er dem Zwischenraum Bedeutung, betont das Unsichtbare und Ungenannte. Seine Figuren geraten nicht in Distanz zu sich, sondern sind immer unmittelbar und lebendig. Diese Atmosphäre des Bedeutungsträchtigen, aber Ungreifbaren betont die Möglichkeiten des Daseins, die sich im Augenblick ihrer Repräsentanz bereits verflüchtigen. Deshalb ist eigentlich eine Carver-Rezension ein verlorenes Unterfangen: es bedeutet das Benennen des Schweigens. Stattdessen sollte der Leser lieber, wie Judith Hermann in ihrem hervorragenden Anti-Vorwort rät, "vermissen, ohne zu fragen."

Titelbild

Raymond Carver: Kathedrale. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Helmut Frielinghaus.
Berlin Verlag, Berlin 2001.
269 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 382700330X

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