Verpasste Chancen

Benjamins Berlin-Erinnerungen photographisch illustriert

Von Christoph Schmitt-MaaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Schmitt-Maaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Moment des Erinnerns wurde für Walter Benjamin Mitte der 20er Jahre zu einem bedenkenswerten und reflexionsbedürftigen Phänomen. Hatte er im "Proust-Essay" (1929) Aspekte einer Poetik des Erinnerns skizziert, so trachtete er, dieses Verfahren in der "Berliner Kindheit" (1932-34) zur Anwendung zu bringen. Die Vergegenwärtigung der Kindheit soll durch die mémoire involontaire geschehen, die den Betroffenen ohne eine Willensanstrengung in die eigene Vergangenheit zurückversetzt. Dazu sei allerdings das Vergessen eine entscheidende Voraussetzung: Nur durch sie erhält die Qualität der Erinnerung eine neue Tiefendimension. Die Beschaffenheit der Erinnerungsbilder definiert Benjamin als Bilder, "die wir nie sahn, ehe wir uns ihrer erinnerten". Die Ereignisse der Vergangenheit werden also in neuer Form gestaltet und nicht einfach wiederholt.

Da scheint es um so löblicher, die Texte, welche sich mit jenem Ausschnitt des 19. Jahrhunderts, den der 1892 geborene Benjamin noch persönlich kennen gelernt hatte, zusammenzustellen, und sie durch historische Berlin-Photographien zu dokumentieren.

Das böse Erwachen aus dem Traum des Idealbuches folgt jedoch alsbald. Beginnt man mit der Nachbemerkung von Sebastian Kleinschmidt, so ärgert die Zurechtstutzung Benjamins auf das Format eines metaphysischen Melancholikers. Schon hier fällt dann auch die (Druck-?)Fehlerquote ins Auge. Nicht nur, dass aus der Mittelbarkeit eine Mittelbärkeit wird; im ganzen Buch kann der Leser Walter Benjamins Namen in den Varianten Wlater, Beniamin und Benjanin lesen.

Und auch in einer weiteren Hinsicht scheint der Lektor geschlafen zu haben: So findet sich zwar zu fast allen erinnerten Bauwerken, Parks etc. eine sepiagetönte Photographie, diese ist jedoch in keinem einzigen Fall an die Textstelle angeschlossen. Vielmehr wurden die Bilder äußerst unpassend über den Text gestreut.

Das ist in mehrfacher Hinsicht ein Ärgernis: So hätte sich die Chance geboten, Benjamins Blick zu folgen, seine Trauer über den Verlust der Aura zu verstehen - sie ist zentrales Moment vor dem Auraverlust und der Aurazertrümmerung. Darüber hinaus ist die Chance ungenutzt verstrichen, Benjamins Texte in ihrem ursprünglichen Stil zu veröffentlichen - nicht im Faksimile vielleicht, aber jedenfalls unter Beibehaltung der originalen Orthographie und Interpunktion. Wer je Benjamins Werk im Erstdruck gesehen hat, wird verstehen, wieviel Originalität die vereinheitlichende kritische Ausgabe durch Tiedemann und Schweppenhäuser zerstört hat.

Titelbild

Walter Benjamin: Beroliniana. Mit einer Nachbemerkung von Sebastian Kleinschmidt.
Koehler & Amelang Verlag, München 2001.
280 Seiten, 20,35 EUR.
ISBN-10: 3733803124

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