Surreale Selbsterkenntnis in deutscher Vorortvilla

Michael Krügers Novelle "Das falsche Haus"

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich hatte ihn sein Verlag nach Hamburg geschickt, um ihn einen Zeitungsartikel über den Kongress des Verbandes der Bibliothekare Deutschlands schreiben zu lassen. "Eigentümlich, wie schnell sich die Welt verändern kann, wenn man sie herausfordert", stellt der namenlose Ich-Erzähler in Michael Krügers Novelle fest, als ihn die Hand des Schicksals in Form eines Fußballes trifft - mitten auf dessen weißes Hemd. Sie hinterlässt einen runden Schmutzfleck, der das Leben des Zeitungsredakteurs verändern wird. Eine "ausgemergelte Blondine" ruft den Verschmutzten in ihre komfortable Villa, in welcher der Erzähler die nächsten Wochen verbringt. Die fremde Vorortvilla gleicht einem schaurigen Traumland, das den Besucher zu Selbstbeobachtungen treibt. Zur Begrüßung in diesem Zwischenreich der Tagträume erhält er nicht nur ein frisches Hemd, sondern gleich eine neue Krawatte und Socken dazu. Und eh man nur den Namen der mysteriösen blonden Gastgeberin erfährt, steht der Ich-Erzähler bereits unter der Dusche des Gästebades in der luxuriösen Residenz, sieht sich im Spiegel und philosophiert über die Menschheit und ihre Eigenheit, sich selbst im Bad zusehen zu wollen. Man solle sich selbst ein Fremder bleiben, resümiert der Neuankömmling und ist erleichtert, als sein Spiegelbild vom kondensierenden Wasserdampf verschleiert wird. Anschließend tritt der Gast parfumduftend aus dem Badezimmer, und Marcel, der Sohn der geheimnisvollen Frau, betrachtet den Erzähler bereits als Teil der Familie und beachtet ihn gar nicht. Der Frau scheint es ähnlich zu gehen, denn sie verlässt den frisch Geduschten und beauftragt ihn vertrauensvoll - mit wenigen Worten -, die nächsten Stunden während ihrer Abwesenheit auf ihren Sohn acht zu geben.

Die ganze Situation ist an den Haaren herbeigezogen, könnte künstlicher kaum sein. Und doch liest man weiter. Der Reiz des Buches liegt in der präzisen Sprache des Autors, in den genauen Beschreibungen der Beobachtungen, der undurchsichtigen Geschäfte des Großvaters und der Familienverhältnisse der Gastgeberin, die sich Stück für Stück offenbaren und zu Legenden über Mord in Buenos Aires und Geliebten im Urwald führen. Unterbrochen wird die Geschichte immer wieder von Passagen über das Verlagswesen, den Erfolgsdruck der Gesellschaft oder das Leben an sich. Dort erfährt man mehr über den Erzähler, der als Erfolgloser in einer Gesellschaft unter Erfolgsdruck zu überleben versucht und dabei mehr Erfolg hat als er sich wünschte. Er brach sein Biologie-Studium ab, obwohl er bereits die Dissertation vor Augen hatte. Die Erfahrungen auf den anschließenden Reisen begann er aufzuschreiben, um Eindrücke im Gedächtnis zu behalten. Als ihm die publizierten Erinnerungen an eine Afrikafahrt einen Preis einbrachten, beschloss er, das Schreiben zum Beruf zu machen und wurde Zeitungsredakteur. Für seine Zeitung schreibt er in der Sparte "Das politische Buch", eine Seite, die unregelmäßig erscheint, weil ihre Veröffentlichung an die Menge der Todesanzeigen geknüpft ist - je mehr Anzeigen, desto weniger "politisches Buch".

Auch beruflich befindet sich der Erzähler also im "falschen Haus" und findet in der Villa, in der er vom Weltuntergang träumt und mit Tempo in eine neue Familie eingebunden wird, nun auch Zeit, sich seiner Forschung zu widmen: Er schreibt ein Buch über "jesuitische Indianerreduktionen in Uruguay". Dem Buch fehle bisher "Stoff, Erzählung", so erkennt der Ich-Erzähler. Der Novelle von Michael Krüger fehlt dies nicht, die sich öffnenden Abgründe der Seele des Erzählers treiben ihn selbst in die Nähe des Wahnsinns, Zornausbrüche wechseln mit Tränen. Und am Ende muss der Gast das falsche Haus verlassen. Sonst würde er verrückt, erkennt er selbst, schreitet nun "erleichtert" seinem "Unglück entgegen" und hinterlässt einen verwirrten Leser.

Titelbild

Michael Krüger: Das falsche Haus. Novelle.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
176 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 351841349X

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