Bekanntes Gesicht, gemischte Gefühle

Der Frühjahrsproduktion fehlt ein Moment der Verführung

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit ihren Zweitbüchern tun sich viele junge deutsche Erzähler schwer. Das überschwängliche Lob der Kritik erweist sich als Bürde, der Literaturbetrieb fordert mit Lesereisen, Presseterminen und Preisverleihungen seinen Tribut und ist der künftigen Arbeit wenig zuträglich.

Judith Hermann erfuhr die Erfolgslast ihres Erstlings als besonders drückend - mit ihrem Erzählband "Sommerhaus, später" wurde sie zur Ikone der Frollein-Wunder-Literatur, die seit Anfang der 90er Jahre den Buchhandel bewegt. Ihr Erstling, vom Verlag mit gebremster Erwartung in der Collection Fischer platziert, war einer der Überraschungserfolge der letzten vier Jahre: Von der deutschen Ausgabe wurden allein 250.000 Exemplare verkauft, mittlerweile sind 17 Übersetzungen hinzugekommen.

Zwischenzeitlich ließ Judith Hermann ihre Leser warten - ohne dass ihr eindrucksvolles Gesicht in Vergessenheit geraten wäre: Ein fast schon legendäres Porträtfoto und der Kleist-Preis halfen dabei. Für ihren Zweitling benötigte sie zuviel Zeit, wie ihr die Kritik sauertöpfisch vorrechnete - und es war wieder kein Roman. Die Aufnahme der soeben ausgelieferten Erzählungen "Nichts als Gespenster" ist im Ton entsprechend verhalten: Enttäuschung überwiegt, die Kritiker haben sich mit dem Buch gelangweilt ("Die Welt"). Doch lässt sich, soweit man die Reaktionen jetzt schon überschauen kann, kein Einbrechen der Sympathiewerte konstatieren, kein fundamentales Wegbrechen der fördernd-kritischen Begleitmusik, kein genereller Zweifel an der erzählerischen Begabung überhaupt, wie es etwa bei Zoë Jenny oder Robert Schneider erfahrbar war.

Konstatiert werden die Beschreibungsunlust und die "Erfahrungsarmut" der Autorin, und dies macht ein Bild - von der "Zeit" ebenso wie von der "Frankfurter Rundschau" abgerufen - besonders anschaulich, nämlich die Beschränkung der Lebensäußerungen der Figuren darauf, dass sie sich eine Zigarette anzünden: "Man reist, man trifft sich, man vollzieht den Liebesakt oder vollzieht ihn nicht, beides mit nämlicher Leidenschaftslosigkeit, man schweigt und raucht." Die "Tristesse globale" (Iris Radisch) erfasst die dargestellte Welt ebenso wie die Welt der Darstellung.

Es waren die fünfziger Jahre, so Ina Hartwig in der FR ("Erst mal eine rauchen"), als dergleichen noch einen "Thrill" hatte. Wollte man es an einem Text zeigen, so fiele einem vielleicht "Frühstück bei Tiffany" (1958) ein. Der leichtfüßige, unbeschwerte, ja skandalöse Lebenswandel der 18-jährigen Holly wurde schon in ihrem Namen sichtbar, Golightly, doch ihr Autor hatte seine Figur keineswegs ärmlich und schon gar nicht lustlos ausgestattet: "Zögernd begann ich die Lektüre, lauschte der Stimme des Erzählers Truman Capote erst mißtrauisch, dann aufmerksam, schließlich überredet und begierig: mehr davon!"

Wer hier so schwärmt und sich begeistern lässt, es ist Robert Gernhardt, staunt darüber, dass jemand "in der zweiten Hälfte der verhockten 50er Jahre eine derart unangestrengt vorurteilsfreie Geschichte hatte schreiben können", noch dazu ohne jeden "missionarischen Eifer". Heute muss man wohl sagen: Das repräsentierte eben Amerika, da sprach ein herausragender Prosaist, der seine Figuren mit Witz und Sympathie zu begleiten wusste.

Die Langeweile der deutschen Autoren, ihr trauriges "Holly Go-slightly", hatte und hat dort keine Entsprechung. Wo Capote kunstlos war, da war er es mit Bedacht, mit Genie, mit vibrierendem Understatement: Man erlebt seine raffiniert inszenierte erzählerische Gelassenheit als geradezu gesteigerte Beschreibungsintensität. Anders unsere jungen deutschen Erzähler: Wenn ihre Figuren sich eine Zigarette anzünden, dann wirkt das wie ein hilfloser Versuch zu zeigen, dass sie auch noch da sind - und handeln. Man fragt sich, wie das wohl im heutigen Amerika gelesen würde, wo die Krebswarnung auf jeder Zigarettenschachtel mehr Raum einnimmt als der Markenname und man die Raucher zu Outcasts erklärt? Vermutlich eher als Gedankenlosigkeit, als Beschreibungsimpotenz, denn als Coolness junger, moderner Europäer, aus denen Lebensart spräche: "Die Freiheit nehme ich mir."

Hans Magnus Enzensberger, ein Fährtensucher mit vorzüglicher Spürnase, beobachtet diesen Mangel an guter und gehobener Erzählkunst in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit den 70er Jahren, und seither gibt er auch immer wieder Lektüreempfehlungen heraus, zu einem beachtlichen Teil in seiner "Anderen Bibliothek". Viele seiner Fürsprachen würde er selber freilich kaum verlegen, Autoren wie Louis Bromfield oder Daphne du Maurier, aber sie könnten Leser auf passablem Niveau verführen und würden sich für die "Sommerprogramme" der großen Publikumsverlage eignen.

Ina Hartwig vergleicht Judith Hermann mit Marguerite Duras, die immerhin auf hohem Niveau am Kitsch entlanggeschrammt sei, während man Zoë Jenny schon bescheinigt hat, dass es bei ihr noch nicht einmal zu "einem rechtschaffenen Stück Kitsch lang[e]" (Burkhard Müller). Es ist daher nur konsequent, wenn man wie Dorothea Dieckmann für die Wiedereinführung des Begriffs "Trivialliteratur" plädiert, damit man die Literatur (im emphatischen Sinne) "wenigstens dem Begriff nach von ihrer eigenen Karikatur" unterschieden kann, "so dass nicht länger neben Reinhard Jirgl und Elfriede Jelinek eine Zoë Jenny, neben Wolfgang Hilbig oder Peter Handke eine Judith Hermann, neben W. G. Sebald die Platitüden eines Dietrich Schwanitz oder ein Romänchen von Elke Schmitter und neben Brigitte Kronauer etwa der Berufspubertäre Christian Kracht oder die Altmännerbekenntnisse eines Hellmuth Karasek stehen."

Aber wäre denn überhaupt jemand in der Lage, Kitsch von Kunst zu unterscheiden? Bekanntlich war die Betroffenheit groß, selbst unter erfahrenen Kritikern, als Binjamin Wilkomirski seine "Bruchstücke" vorlegte; erst als sich das Buch als Fälschung erwies, als der Nimbus der Authentizität verloren ging, erkannte man auf "Holocaust-Kitsch", ging das Buch nicht einmal als "Literatur" mehr durch. Kitsch also paart sich mit der Lüge ebenso wie mit der Wahrheit, mit der Hochkunst ebenso wie mit dem Trivialen, und vielleicht muss, wer angenehm unterhalten sein will, Kitsch gelegentlich in Kauf nehmen.

Felicitas Hoppe, von der wir nach "Picknick der Friseure" (1996) und "Pigafetta" (1999) das dritte Buch erwarten, "Paradiese, Übersee", steht eher für das Gegenteil - für eine spröde Stationenprosa, deren Lektüre mehr Pflichtübung als Vergnügen bedeutet. In ihrem zweiten Roman lässt Hoppe einen Ritter auftreten, der in Begleitung eines Pauschalisten nach Indien reist. Ein seltsamer Anachronismus bestimmt das Verhältnis beider Figuren: Während der Ritter, mittelalterlich gerüstet, in einer Art Vergangenheit zu reisen scheint, ist der Pauschalist zeitgemäß mit einem Diktiergerät ausgerüstet. Ein Hund, der sie begleitet, zählt dreihundert Lenze. Der Inkommensurabilität der Zeitverhältnisse ist für die Autorin kein Thema, ebenso wenig wie die Frage nach der allegorischen oder wörtlichen Bedeutung ihrer Erzählung.

In einer seiner Vorlesungen thematisiert Niklas Luhmann die Leistung des "Don Quijote", bestimmte Dinge durch Parallelfiguren zu schildern, die von der Hauptfigur nicht wahrgenommen werden: Der Realitätssinn des Don Quijote ist durch seine Leidenschaft für Ritterromane derart getrübt, dass ein neues literarisches Motiv sich herausbildet - das "Nichtsehen der Realität". Derart fundamentale Neuerungen sind zu allen Zeiten selten gewesen, sei es in der Literatur, sei es in der Theorie. Sie sind an ein Unterscheidungsvermögen geknüpft, aus dem sich Erkenntnis schöpfen lässt.

Felicitas Hoppes Buch präsentiert uns nur eine Figurenperspektive, die des Pauschalisten, und eine weitere aus der Distanz, die des anonymen Erzählers. Sie stören sich nicht, und so wird bewusst offen gehalten, was Erfahrung und was Einbildung ist, was Erfindung und was Erinnerung. Die Figuren warten wie bestellt und nicht abgeholt, ein Doktor Stoliczka spukt durch den Kopf des Pauschalisten, ohne sich jemals zu materialisieren, auch gibt es keine Dialoge, die uns à la Wladimir und Estragon die Zeit verkürzen könnten. Der Leser ist ständig auf der Suche nach dem Bezugssystem, das hier gelten soll: Ist es die Literatur, ist es ein Phantasma, ein Mythos, ein Märchen, Absurdes Theater gar? Sollen wir den Text symbolisch oder allegorisch lesen? Geben die Bibel oder der Ritterroman die Koordinaten vor, statten sie die Figuren mit Merkmalen aus - oder assoziieren wir sie nur hilflos herbei?

Ob sich aus der Entscheidung, keine Unterscheidung zu treffen, Gewinn ziehen lässt, ist sehr die Frage. Die Fähigkeit, eine gute Geschichte gut zu erzählen und damit auch ein breiteres Lesepublikum zu verführen, ist hier stark verkümmert. Das kurzatmige, konnotativ-regellose Erzählen einer Felicitas Hoppe oder einer Judith Hermann kann eine bemühte und bereitswillige Literaturkritik bis zum Herbst beschäftigen, doch es kann sich, wie die Eintagsfliege, weder Zukunft noch Vergangenheit erschließen. Wie es scheint, ist die neuere deutsche Prosa mühselig und ohne Esprit, von Ausnahmen abgesehen. Anderes hingegen gehört überhaupt nur partiell in den Bereich der Belletristik. Gespannt darf man sein auf einen deutschen Erzähler, der bereits in der Vergangenheit Experimentierfreude gezeigt hat. Burkhard Spinnen, Jahrgang 1956, erzählt in seinem Nonfictionbuch "Der schwarze Grat" die Geschichte des mittelständischen Metallunternehmers Walter Lindenmaier aus Laupheim, und dabei hält er sich so exakt an die Wirklichkeit wie ein Biograph.

Womöglich ist genau hier ein Ausweg aus der deutschen Beschreibungsmisere zu sehen, in der Forderung nämlich, dass sich Autoren, die schreiben können, aber nichts zu erzählen haben, in den Dienst einer gesellschaftlichen Notwendigkeit stellten, freilich nicht so, wie dies in der 68er-Bewegung gefordert wurde, sondern scheuklappenfrei und ideologisch unbelastet.

Der bereits erwähnte Truman Capote hat auch hier Pionierarbeit geleistet: Für seine nonfiction novel "Kaltblütig" (1966) recherchierte er den Mord an einer vierköpfigen Farmersfamilie in Holcomb, Kansas, USA. Er besuchte die Täter im Gefängnis und begab sich auf die Suche nach ihrem Motiv. Capote war sich nicht zu schade, seine Literatursprache in den Dienst der Wirklichkeit zu stellen: Er porträtierte Marlon Brando und Ezra Pound, Elizabeth Taylor und Colette, seine Städtereisen waren ironisch-distanzierte Liebeserklärungen an Amerika und dessen Vorurteile, und seine meisterhaften Reportagen, darunter "Mit Porgy und Bess in Russland" (1956), erneuerten die Gattung. Folglich wurde auch sein "nicht-erfundener Roman", ein psychologischer Thriller, eines der meistdiskutierten Bücher seiner Zeit.

Burkhard Spinnen geht einen ähnlichen Weg: In allen Details erfährt der Leser, wie der Autor im Mai 1996 zu seinem Stoff gekommen ist, wie er ihn über die Jahre entwickelt hat und wie dieser auf die Beteiligten zurückwirkte. Sicher hätte Spinnen, der ein großer Sammler ist und vor diesem Buch immerhin sieben größere Erzählwerke vorgelegt hat, auch eigene Projekte gehabt. Doch dieses "Lehrstück in deutscher Wirtschaftsgeschichte", diese Mischung aus Biographie und sozialem Roman, Porträt und Reportage, Sachbuch und Wirtschaftskrimi muss ihn noch stärker gereizt haben: Offenbar paaren sich hier Erfolg und Misserfolg, Macht und Ohnmacht, Privates und Politisches. Es kann uns, erzählerisch gut aufbereitet, unterhalten und belehren - auch über den Tag hinaus.

Titelbild

Truman Capote: Frühstück bei Tiffany. Ein Kurzroman und drei Erzählungen.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Hansi Bochow-Blüthgen, Marion F. Steipe, Helen Ryhenstroth und Elisabeth Schnack.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2001.
135 Seiten, 5,90 EUR.
ISBN-10: 3499104598

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Burkhard Spinnen: Der schwarze Grat. Die Geschichte des Unternehmers Walter Lindenmaier aus Laupheim.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
305 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3895610372

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Judith Hermann: Nichts als Gespenster.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
256 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 310033180X

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Felicitas Hoppe: Paradiese, Übersee. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2003.
189 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3498029673

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