Die Ruine als Störfall und Ideal
Michael Brauns Darstellung des literarischen Fragments bei Büchner, Kafka, Benn und Celan
Von Roman Luckscheiter
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Unvollendete hat seinen Reiz: Es eröffnet der Phantasie konkrete Gestaltungsräume und verleiht dem bruchstückhaft vorliegenden Material die mysteriöse Aura eines verborgenen Mehrwerts. Burgruinen sind daher mindestens ebenso beliebt wie intakte Schlösser, nicht nur die romantische Malerei hat sie zu ihrem Lieblingsmotiv erklärt. Die literarische Äquivalenzerscheinung der Ruine ist das Fragment - sei es in Form des zerfallenen, zerstörten, unvollendeten oder absichtlich offen gelassenen Textes. Als Objekt wissenschaftlicher Beschäftigung rangiert es auf gleicher Höhe mit jenen literarischen Formen, die von Anfang bis Ende durchkomponiert sind und als geschlossene Einheiten vorliegen. Sich dem literarischen Fragment in einer literatur- wie ideengeschichtlichen Monographie nähern zu wollen, bedeutet also, sich auch mit einer Vielzahl von bereits im Umlauf befindlichen Definitionen und Interpretationen auseinandersetzen zu müssen. Michael Braun hat in seiner Kölner Habilitationsschrift die Herausforderung angenommen und ist mit einem legitimen Trick Herr der umfangreichen Forschungslage geworden: Er hat sich exemplarisch auf die Rolle und Bedeutung des Fragments bei Büchner, Kafka, Benn und Celan beschränkt und sich damit Gelegenheit geschaffen, an konkreten Fällen den funktionalen Wandel dieser problematischen Gattung anschaulich zu machen. Die Auswahl der Autoren erweist sich dabei als zweifach geschickt: Zum einen setzt die Reihe erst nach der Romantik ein, die als philosophische Blütezeit des Fragments besonders gut erforscht ist, zum anderen stellt sie Werke in den Vordergrund, deren Fragmentarität zwar immer wieder Thema gewesen ist, aber durch eine kontrastiv typoligisierende Analyse noch erheblich an Tiefenschärfe gewinnen konnte.
Unter der Rubrik "zerbrochene Ganzheit" weist Braun die "elementare Fragmentarität" bei Büchner nach, der in "Dantons Tod" ganze Motivketten (insbesondere die Guillotine wird hier zum Leitmotiv) des Deformierens und Zergliederns gelegt hat: Der "Zerstücktheit" der menschlichen Existenz sollte eine implizite Poetik des Fragments entsprechen. Das herkömmliche Verständnis, Büchners "Lenz"-Fragment sei nur die Vorstufe zu einer geplanten Ganzheit, wird mit eben dieser impliziten Poetik widerlegt - nicht externe Nöte, sondern inhaltliche Zwänge haben den Text ein Bruchstück bleiben lassen. Was Paul Celan in seiner Büchner-Preisrede andeutete, wird in der Analyse deutlich: Eine formal konsequente Darstellung des ruinösen Künstlerschicksals konnte nur von einer Textruine geleistet werden. "Der Stoff ließ Büchner keine Wahl", postuliert Braun auch im Hinblick auf das Drama "Woyzeck". Die ungewohnt fragmentarische Gestalt des Textes antwortete auf die ungekannt gespaltene Figur des neuen Helden und ließ paradoxerweise im Formverlust den Energiegewinn der Moderne erkennen.
Um 1900 war das Interesse an Ruinen, das Schliemanns Ausgrabungen in Troja noch förderte, im literarischen Formdiskurs zwar immer noch überaus modern, aber schon ganz anders gelagert. Ob bei Simmel, Hofmannsthal, Nietzsche oder Rilke - das Fragment geriet zum Zeichen von Kulturverfall und Kulturkritik, wurde "Denk- und Darstellungsmodus" einer apokalyptisch gestimmten geistigen Situation, wie Braun es in seinem Kapitel über die "verlorene Ganzheit" in Kafkas Fragmenten formuliert. Im breiten Krisenspektrum des neuen Wahrnehmungsbewusstseins erscheinen Kafkas Erzähl- und Romanfragmente als eine den "ästhetischen Absichten entsprechende Darstellungsform", kurzum: als die "beste Form des Scheiterns". Was an den Ganzheitsidealen der klassischen Literatur gemessen als literarisches Scheitern betrachtet werden musste, erwies sich als Chance für die Literatur im Sinne ihrer formalen Modernisierung. Durch Brauns Darstellung wird deutlich, dass von da an die Form an sich immer mehr Inhalt transportierte und dem Inhalt das Recht auf eine ehrlichere Form zugestanden wurde: Wenn der Text, wie in "Der Verschollene", einfach abbricht, dann deshalb, weil dem Autor die Hauptfigur in eine ausweglose Krise geraten war.
Als Pathologe und Anatom mit Seziererfahrung war Gottfried Benn prädestiniert, um den Menschen lyrisch zu zergliedern; die Existenzform der Moderne umschrieb er in seinem Essay "Doppelleben" kühl als "Kontinuität aus Lücken und Verlusten". Lediglich als "Mensch in Anführungszeichen" sei der Homo sapiens vom dichtenden Ich in Zeiten von "Wertezerfall und Sinnverlust" zu konstruieren. Unter dem Aspekt der "abwesenden Ganzheit" hat Braun Benn an die Seite von Celan gestellt, wo Zerfall und Terror den Hintergrund und Gegenstand poetischer Bruchstücksmotivik wie in den Gedichten "Ödplätze" und "Schutt" bilden. Die klassischen Ansprüche des Gedichts auf Immunität, Dauer und Nutzen, so Braun, würden in Celans Gedichten zerstört und durch Zeichen unterbrochener Gesprächszusammenhänge konterkariert. Der Titel des Buches, "Hörreste, Sehreste", zitiert Celans Gedicht aus dem Jahr 1967. In ihm begegnen sich des Dichters historische wie persönliche Verlusterfahrungen, niedergeschrieben unter dem Eindruck psychiatrischer Behandlung: Als Patient im Schlafsaal liegend, besteht der "Störfall des Lebens" darin, Wahrnehmungsfetzen ausgeliefert zu sein und Hören und Sehen nicht mehr an ein Verstehen rückbinden zu können.
Dem Leser fragmentarischer Texte kommt um so mehr Verstehensarbeit zu - die Ruine fordert ständig zu geistiger Rekonstruktionsarbeit heraus und signalisiert dem Besucher doch, dass er mit Lücken lesen und leben zu lernen habe. Wenn der Dichter auch das Vertrauen in die Einheit der Welt und ihre homogene Darstellbarkeit verloren haben mag, sein Vertrauen in den Rezipienten verhält sich regelrecht antiproportional. So scheint es fast, dass die Moderne den Leser in dem Maße mündig werden lässt, in dem sie die Autoren in ihrer klassischen Gestaltungsmacht entmündigt. Die Ruineneuphorie der Romantik, die das Fragment als ideale Gattung pries und ausprobierte, ist vielleicht auch deswegen auf Seiten der Schriftsteller von einer Poetologie der Trauer abgelöst und übertönt worden. Dass dies oft seine weltanschaulichen und biografischen Gründe hatte, steht außer Frage; Michael Brauns gründliche Analyse zeigt aber eben nicht nur die textuellen Spuren des Leidens und Irritiertseins auf, sondern auch den erheblichen Gewinn an Literarizität, den die Poeten des Unvollendeten, des zerbrochenen, verlorenen oder abwesenden Ganzen der Literatur erschlossen haben.
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