Schillers "Glocke" - oft parodiert und für tot erklärt

Wulf Segebrecht erklärt, warum sich eine Auseinandersetzung mit ihr heute noch lohnt

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schillers "Lied von der Glocke" ist eines der bekanntesten deutschen Gedichte, obwohl kaum noch jemand das Gedicht genauer kennt oder gar auswendig aufsagen kann. Viele Formulierungen aus der "Glocke" sind längst in den alltäglichen Sprachgebrauch übergegangen - auch bei jenen Menschen, die von Schiller nichts wissen oder nichts mehr wissen wollen, wie etwa die Redewendung: "Von der Stirne heiß / Rinnen muss der Schweiß. / Soll das Werk den Meister loben. / Doch der Segen kommt von oben."

Aber nicht erst heutzutage verwendet man diese und ähnliche Sätze mit ironischem Abstand. Schon Schillers Zeitgenossen brachten dem Gedicht nicht nur Bewunderung, sondern auch Spott entgegen. "Über ein Gedicht von Schiller, das Lied von der Glocke, sind wir gestern Mittag fast von den Stühlen gefallen vor Lachen", berichtete Caroline Schlegel ihrer Tochter im Herbst 1799, nachdem die Romantiker in Jena das Gedicht in Schillers Musenalmanach gelesen hatten. Hundertfünfzig Jahre später hat Thomas Mann diesen unbotmäßigen Lesern einen strengen Verweis erteilt. So haben Lob und Tadel, kecker Widerspruch und ehrerbietige Würdigung Schillers ambitioniertes Gedicht von Anfang an bis heute begleitet.

Der Germanist Wulf Segebrecht hat einige der schönsten Verunglimpfungen aus der Geschichte des Liedes von der Glocke ausgewählt: böse und sogar pornografische Verballhornungen, ernsthafte Ehrerweisungen, ideologiekritische Umarbeitungen und witzige Nonsens-Verse. Die politische Agitation steht neben der blöden Verulkung, die wohlmeinende Apologie neben der heftigen Attacke, der eilfertige Gebrauch neben dem üblen Missbrauch von Schillers Gedicht. Daneben begegnet man auch liebevoll-idyllischen bildlichen Darstellungen von Ludwig Richter und umsichtigen Erläuterungen des dargestellten Glockengusses. In der Summe ergibt sich eine ebenso unterhaltsame wie lehrreiche Wirkungsgeschichte, die sowohl über die Verächter und Bewunderer Schillers als auch über die anhaltende provozierende Kraft seines "Liedes von der Glocke" Auskunft gibt.

Nach Aussage von Schillers Schwägerin Caroline von Wolzogen hatte der Dichter im Sommer 1788 während seines Aufenthalts in Rudolstadt mehrfach eine Glockengießerei vor der Stadt besucht und dort erste Anregungen zu seinem geplanten "Lied von der Glocke" erhalten. Aber offensichtlich nahm der Plan erst sehr viel später, nämlich um 1797, konkrete Formen an. Zudem deutet alles darauf hin, dass es von Anfang an ein groß angelegtes Gedicht werden sollte. Segebrecht hat es in vollem Wortlaut in sein Buch aufgenommen und erzählt, wie das Gedicht, nachdem es gerade erschienen war, schon 1800 in Clemens Brentanos Erstling, das literatursatirische Lustspiel "Gustav Wasa", Eingang fand, in dem die Glocke als redende Figur eingeführt wird, "welche das ganze Leben zusammenläutet."

Die ersten Reaktionen, die Schiller auf sein Gedicht hin erhielt, waren indes durchaus positiv. Christian Gottfried Körner und Wilhelm von Humboldt waren des Lobes voll. Kritik kam dagegen vor allem aus dem Kreis der Jenaer Romantiker. Friedrich Schlegel dichtete: "Ach wie gefällt die 'Glocke' dem Volk und 'die Würde der Frauen'! / Weil im Takt da klingt alles, was sittlich und platt." Sein Epigramm kritisiert, wie leicht zu erkennen ist, nicht nur Schiller, sondern auch dessen Publikum. August Wilhelm Schlegel hat dem "Lied von der Glocke" ebenfalls einige satirische Epigramme gewidmet, die an Schärfe nichts zu wünschen übrig lassen.

Goethe wiederum schrieb seinen "Epilog zum Lied der Glocke" kurz nach Schillers Tod, um ihn als Schluss einer Gedächtnisfeier, die am 10. August 1805 im Lauchstädter Theater stattfand, von der Schauspielerin Amalie Becker vortragen zu lassen. Goethe soll während einer Probe Amalie Becker mit Tränen in den Augen beim Arm ergriffen und zu ihr gesagt haben: "Ich kann, ich kann den Menschen nicht vergessen." In diesem Epilog kommen die Verse vor: "Denn er war unser! Mag das stolze Wort / Den lauten Schmerz gewaltig übertönen! / Er mochte sich bey uns im sichern Port, / Nach wildem Sturm, zum Dauernden gewöhnen. / Indessen schritt sein Geist gewaltig fort / In's Ewige des Wahren, Guten, Schönen / Und hinter ihm, in wesenlosem Scheine, / Lag, was uns alle bändigt, das Gemeine."

Zweifellos hat Goethe mit der Idealisierung und Heroisierung seines Dichterfreundes das Schiller-Bild des 19. Jahrhunderts erheblich mit beeinflusst und entscheidend dazu beigetragen, dass es gerade "Das Lied von der Glocke" war, das Schillers Popularität immer wieder aufs Neue bestätigte. Den abschließenden Versen dieses Liedes, in denen Eintracht, Freude und Frieden beschworen werden, verleiht Goethe in seinem "Epilog zu Schillers Glocke" geradezu den Charakter von Schillers letztem Willen, dessen Erfüllung er zur nationalen Aufgabe macht.

In den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde Schiller - auch das kann man an Umdichtungen der "Glocke" gut erkennen - zum Lehrer der Nation. Aber nicht nur von Gymnasialprofessoren, auch von Handwerkern und Arbeitern wurde er als Initiator der nationalen Einheit gelesen und gefeiert, so sehr, dass im Schiller-Jahr 1905 ein Anonymus, der sich Secundus nannte, in der satirischen Zeitschrift "Der wahre Jakob" "Des deutschen Spießbürgers Schillerfeier" mit folgenden Versen aufs Korn genommen hat: "Holt den Rock mir aus dem Schranke, / Wohlgebürstet muss er sein, / Denn ich geh zur Schillerfeier, / Und das Publikum ist fein."

Durchweg aber wollten die Autoren, die Schillers "Lied von der Glocke" nachahmten, merkt Segebrecht an, sein Gedicht gar nicht in Frage stellen, sondern setzten alles daran, sich dieses erfolgreichen, allseits bekannten und markanten Liedes für ihre eigenen Zwecke zu bedienen. Die meisten Parodisten nutzten Schillers "Lied von der Glocke" daher als Vorlage und Vorbild für eigene Entwürfe. Pure Verulkungen sind vergleichsweise selten, abgesehen von der radikalen, von einem anonymen Autor verfassten Verkürzung:

"Loch in Erde, / Bronze rin. / Glocke fertig, bim, bim, bim", oder die russische Variante: "Loch in Erde, / Bronze rin. / Sabotage, / bim, bim, bim."

Andere brachten ihre Einwände in einem scherzhaften Ton vor. Auch der in Schillers Gedicht fehlende Glockenklöppel, den schon August Wilhelm Schlegel angemahnt hatte, haben manche Autoren zum Thema gemacht.

Im Frühjahr 1811 trug Achim von Arnim der von ihm begründeten Deutschen Tischgesellschaft in Berlin sein Gedicht "Die Glockentaufe" vor, das den typischen Ablauf der Versammlungen dieser patriotischen, christlichen, gegen Philister und Juden gerichteten Gesellschaft wiedergibt. Der äußere Anlass war die Anschaffung und Einweihung einer Glocke, mit deren Hilfe sich der Versammlungsleiter der Tischgesellschaft Gehör verschaffen konnte. Achim von Arnim übernahm ganze Strophen aus Schillers Gedicht und berief sich mit dem Satz "So taufe ich sie in Schillers Namen Concordia" auf den Dichter selbst. Fatalerweise wird Schiller hier für die Judenfeindlichkeit der Gesellschaft in Anspruch genommen, heißt es doch von dieser Vereinsglocke: "Alle Christen zu entflammen / Soll sie Juden laut verdammen!"

Viele Glocken-Parodien verlagerten die Betrachtung des Produktionsprozesses von der Glocke auf nahe Liegendes, zum Beispiel auf die Herstellung von Nahrungsmitteln und Getränken wie Brot, Wurst, Bier, Kaffee, etwa mit Versen wie "Wohltätig ist des Kaffee's Macht / Wird mit Verstande er bedacht, / Der Heiterkeit und gutem Witz / Bereitet er im Herzen Sitz."

In einem anderen Gedicht geht es um die Geburt eines Menschen: "Vierzig Wochen sind entschwunden / Seit der große Akt geschah, / Und bereits in wenig Stunden / Ist der neue Bürger da - / Von der Stirne heiß / Rinnen muss er Schweiß, / Doch mit ein'gen guten Wehen, / Wird das Ding wohl glücklich gehen."

In manchen Zeiten wurde das Gedicht für ein verstockt reaktionäres Machwerk gehalten, dann wieder für ein fortschrittliches Kunstwerk. Vormärz-Autoren haben sich seiner gleichfalls bedient - "O dass auf uns'rer weiten Erde / Der Presse Freiheit - Wahrheit werde!" Andere Glocke-Parodien im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts reflektieren politische Verhältnisse. Unter diesen befindet sich allerdings auch eine antisemitische Hetzschrift, Ed. Schwechtens "Lied vom Levi" (1895), das sich formal eng an Schillers "Lied von der Glocke" anlehnt und in dem der Lebensweg des Juden Levi mit den damals üblichen negativen Klischeevorstellungen geschildert wird.

Im Ersten Weltkrieg kam Schillers "Glocke" als Kriegspropaganda-Instrument zum Einsatz. So dichtete ein S. H. Cramer: "Fest gemauert in der Erden / Steht die Front in West und Ost, / Und zu Trümmern sieht man werden / Alles, wo der Sturm getost."

Segebrecht, der sich selbst nicht darüber äußert, wie politisch, parteiisch oder ideologisch Schillers "Lied von der Glocke" seiner Meinung nach tatsächlich ist, geht auch auf die Diskussion und Kontroverse ein, die ein von Hans Magnus Enzensberger vor einigen Jahrzehnten herausgegebener Band mit Schillers Gedichten (INSEL), in dem die "Glocke" fehlte, ausgelöst hat, wobei er sowohl Enzensbergers Kritiker als auch ihn selbst ausführlich zu Wort kommen lässt.

Segebrecht jedoch ist fest davon überzeugt, dass für Schillers "Glocke" das letzte Stündlein noch lange nicht geschlagen hat. Schließlich sei eine Auseinandersetzung mit dem "Lied von der Glocke" der Elimination allemal vorzuziehen, weil sie auch die Chance einer neuen Lesart bietet.

Die Lektüre dieses Bandes bereitet pures Vergnügen und eignet sich auch hervorragend für einen amüsanten und unterhaltsamen Vortrag in einem literarisch interessierten Kreis. Da fallen kleine Ungenauigkeiten - Schillers Tod wird auf den 7. Mai 1805 verlegt, obwohl der Dichter zwei Tage später starb; dann wieder heißt es in Goethes "Epilog" "zum Daurenden" statt "Dauernden" - kaum ins Gewicht, zumal sich das Buch nicht nur in Ulk und Parodien erschöpft, sondern zur intensiven Beschäftigung mit Schillers "Glocke" geradezu einlädt.

Titelbild

Wulf Segebrecht: Was Schillers Glocke geschlagen hat. Vom Nachklang und Widerhall des meistparodierten Gedichts.
Carl Hanser Verlag, München 2005.
176 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3446205934

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