Zum 85. Geburtstag des Lehrmeisters Marcel Reich-Ranicki
Hinweise auf Neuerscheinungen und auf Beiträge aus dem Archiv von literaturkritik.de
Von Thomas Anz
Dass eine Zeitschrift mit dem Titel "literaturkritik.de" sich immer wieder mit dem wohl populärsten und umstrittensten Literaturkritiker aller Zeiten, also mit Marcel Reich-Ranicki, auseinander setzt, ist nicht weiter verwunderlich. Sogar ein eigenes Reich-Ranicki-Portal haben wir im Dezember 2002 angelegt. Ein Beitrag von ihm selbst zur Beantwortung der Frage "War die 'Gruppe 47' antisemitisch?" eröffnet die unten stehende Dokumentation aus dem Archiv unseres Rezensionsforums. Was folgt, ist chronologisch geordnet und umfasst Rezensionen, Essays und ein Interview. Ein Buch von Reich-Ranicki ist doppelt rezensiert, und zwar kontrovers: die jetzt auch in einer Taschenbuchausgabe vorliegenden Essays "Sieben Wegbereiter", von denen der über Robert Musil besonders viel Widerspruch provoziert hat.
Wer über Reich-Ranickis Leben und literaturkritisches Werk schreibt, tut sich schwer, mit seiner Produktivität und den Turbulenzen seiner Medienpräsenz Schritt zu halten. Im Vorfeld seines 85. Geburtstages, den der am 2. Juni in der Frankfurter Paulskirche feiert, widerlegte er ein weiteres Mal jene Stimmen, die meinten, seit dem Ende des "Literarischen Quartetts" sei es ruhig um ihn geworden. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendwelche Artikel, Interviews, Meldungen oder Auftritte die Öffentlichkeit dazu veranlassen, ihn wahrzunehmen. Und keine Büchersaison, in der nicht etwas Neues von ihm oder über ihn erscheint. Im letzten Herbst zeigte die so umfangreiche wie lesenwerte Sammlung seiner Artikel über Hemmingway, Nabokow, Bellow, Joyce Carol Oates und vor allem John Updike und Philip Roth in dem Buch "Über Amerikaner" einmal mehr, dass dieser Kritiker keineswegs nur in der deutschen Literatur beheimatet ist. In diesem Frühjahr erschien eine überarbeitete Fassung von "Thomas Mann und die Seinen".
Die Energie und Zielstrebigkeit, die Reich-Ranicki noch im Alter von 85 Jahren aufbringt, möchte man haben! Jede Woche schreibt er eine Kolumne, die in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" unter der Überschrift "Fragen Sie Reich-Ranicki" zu lesen ist. Jede Woche erscheint unter seiner Regie eine neue Folge der "Frankfurter Anthologie". Und neben all dem und vielem anderen arbeitet er unermüdlich an seinem Großprojekt der letzten Jahre, dem gewichtigen Beitrag zu dem öffentlichen Kanon-Spiel, das immer wieder die Gemüter zu erhitzten vermag: Was ist das literarisch Beste im ganzen Land? Im September 2004 erschien sein Dramen-Kanon, 42 Theaterstücke in acht Bänden insgesamt, einer für Lessing, einer für Goethe, zwei für Schiller, der Rest für Kleist bis Hebbel, Schnitzler bis Wedekind, Hofmannstahl bis Brecht und Horvath bis Botho Strauß. Reich-Ranickis gattungstheoretische Vorbemerkungen in der Begleitbroschüre zu den Bänden lösen knapp und zielsicher ein Hauptproblem dieser Sammlung: Sind das Texte für die Bühne oder zum Lesen? Für September ist der bereits fertig gestellte Gedicht-Kanon angekündigt. Noch gespannter darf man auf den letzten, gewiss innovativsten Teil des Kanon-Projektes sein, an dem Reich-Ranicki gerade arbeitet: eine Sammlung von kanonischen Essays. Eine solche ist bislang noch nicht erstellt worden.
Während Reich-Ranicki am Kanon deutschsprachiger Literatur arbeitet, arbeiten andere - mit seiner Hilfe - daran, dass er selbst zu einem kanonischen Autor wird. Eben ist eine weitere Biografie (von Uwe Wittstock; siehe seinen Artikel in dieser Ausgabe von literaturkritik.de) über ihn erschienen, und zu seinem Geburtstag hat Volker Hage bei dtv einen kommentierten "Auswahlband für die Schule" von "Mein Leben" vorgelegt. Ist es sinnvoll, dieses allein in deutscher Sprache inzwischen in etwa 1,2 Millionen Exemplaren verbreitete und darüber hinaus in siebzehn Sprachen übersetzte Buch auch noch in einer Schulausgabe (schweren Herzens mit neuer Rechtschreibung!) anzubieten? Als Wink mit dem Zaunpfahl, dass diese Autobiografie sich besonders mit ihren Kapiteln über die Schulzeit im Nationalsozialismus und über das Sterben oder Überleben im Warschauer Getto für die Schullektüre in der Tat sehr empfiehlt, durchaus. Aber sollte man die Auswahl nicht den Lehrern oder den Schülern selbst überlassen? Und hat ein Autor wie Reich-Ranicki, dem man alles andere als Schwerverständlichkeit nachsagen kann, solche Lektürehilfen in Form von Wort- und Sacherklärungen überhaupt nötig? Manche Erklärungen nehmen sich aus, als rechne man mit Lesern, die - um ein polemisches Lieblingswort von Reich-Ranicki zu verwenden - Analphabeten sind. Da wird sich mancher Gymnasiast beleidigt fühlen, wenn er erklärt bekommt, was eine "Bankrotterklärung" oder ein "Klischee" ist. Doch finden sich in dem Buch so informative Hinweise auf historische Hintergründe und so hilfreiche Aufschlüsselungen literarischer Anspielungen, dass Schüler solche Beleidigungen vielleicht dankbar ignorieren.
Reich-Ranicki für die Schule: Der Auswahlband verweist mit schöner Deutlichkeit auf die Rolle, die der Kritiker beim Schreiben und Reden immer schon gespielt hat, auch mit seinem "Kanon", nämlich die eines Lehrmeisters. Gute Schriftsteller, so merkt er wiederholt an, seien erziehungsresistent. So ganz mag er jedoch nicht von dem Versuch ablassen, auch ihnen gegenüber als Pädagoge aufzutreten. Die Hauptadressaten seiner Didaktik sind jedoch die Leser. Und als Lehrer nahmen in oft auch seine Mitarbeiter und Freunde wahr. Davon zeugen etliche Beiträge in dem zu seinem 85. Geburtstag von Hubert Spiegel herausgegebenen Bändchen, in dem Freunde und Freundinnen, Weggefährten, Kollegen und, mit Günter Grass, Gerhard Schröder oder Richard von Weizsäcker, einige hochrangige Repräsentanten der Republik über ihre "Begegnungen mit Marcel Reich-Ranicki" erzählen. Der Schatz an Anekdoten, die über Reich-Ranicki im Umlauf sind, ist durch diesen Band um etliche Köstlichkeiten bereichert worden. Der Beitrag des ehemaligen FAZ-Redakteurs Ulrich Greiner würdigt Reich-Ranickis Bedeutung als Lehrmeister im besten Sinne des Wortes. Weil diese literarische Prosaminiatur selbst ein kleines Lehrstück in Sachen Literaturkritik enthält, sei sie hier abschließend in vollem Umfang zitiert:
Schule der Geläufigkeit
Als ich Marcel Reich-Ranicki mein erstes Manuskript zu lesen gab - es war eine Rezension von Peter Schneiders Erzählung "Lenz", Reich-Ranicki war eben zur F.A.Z. gekommen, während ich schon ein paar Jahre als Jungredakteur im Feuilleton gearbeitet hatte -, rief er mich in sein Zimmer, bat mich, die Tür zu schließen und Platz zu nehmen, griff sich das Manuskript und las mir die ersten Sätze mit kraftvoller Stimme laut vor, so daß ich rot vor Scham wurde, denn ich verstand sofort, was er mir dann Punkt für Punkt erläuterte, daß meine Sätze, durch seinen Vortrag gnadenlos hörbar gemacht, umständlich, stumpf und klanglos waren, und ich ging durch diese von Fall zu Fall sich wiederholenden Übungen hindurch wie ein Klavierschüler durch Czernys "Schule der Geläufigkeit", wobei aus mir, um im Bild zu bleiben, kein Franz Liszt (ein Schüler Czernys) geworden ist, aber begriffen habe ich immerhin eines der Geheimnisse von Reich-Ranickis Erfolg, und ich stieß auf die mir damals neue Erkenntnis, daß es nichts hilft, interessante Gedanken zu haben, wenn man sie nicht wirkungsvoll darstellen kann. - Übrigens vergleiche ich MRR nicht mit Czerny, sondern, wenn schon, mit Beethoven, der diesen eine Weile unterrichtet hat.
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