"Das verschlafene 19. Jahrhundert?"

Ein Sammelband versucht sich an Heinz Schlaffers "Kurzer Geschichte der deutschen Literatur" abzuarbeiten

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heinz Schlaffers "Kurze Geschichte der deutschen Literatur" sorgte bei ihrem Erscheinen vor drei Jahren für Aufsehen, ja für Aufregung unter den Germanisten und Literaturkritikern. Noch zwei Jahre später sorgen seine provokativen Thesen für "eine engagierte, bisweilen sogar enragierte Diskussion", die auch die Anregung zum vorliegenden Band geliefert hat - "genauer gesagt: zu dem Symposion, dessen Vorträge in diesem Band versammelt sind", wie der in Johannesburg lehrende Literaturwissenschaftler Hans-Jörg Knobloch, der zusammen mit dem emeritierten Augsburger Germanisten Helmut Koopmann als Herausgeber fungiert, in seiner - gegen Schlaffer zum Teil kräftig polemisierenden - Einleitung schreibt.

Die Vorträge von zwölf Referentinnen und Referenten aus acht Ländern während eines Symposions in Südafrika im März 2004 sind bestrebt, die - rhetorische - Symposionsfrage zu beantworten, indem sie, so Knobloch, "einige interessante Schlaglichter auf das literarische Panorama des 19. Jahrhunderts" werfen. Dieses Jahrhundert, stellt Mitherausgeber Helmut Koopmann fest, "wird geprägt von Erinnerung und Erwartung, Pessimismus und Fortschrittsglaube, von Heimatliebe und Sehnsucht nach der Fremde, von historischem Bewusstsein und der Verfluchung jeglicher Geschichte, von Familienideologien und Gesellschaftskritik, von Idyllen so gut wie von Satiren, vom Biedermeiertum und dem Interesse für alles Dämonische - ganz zu schweigen von Romantik und auslaufender Aufklärung, von politischen Protesten und neuen Mythologien. Und dieser Antinomien gibt es, wie jedermann weiß, noch sehr viele mehr."

Da Vollständigkeit in der Tat nicht zu erreichen ist, durften die Beiträger offensichtlich aus der Not eine Tugend machen und ihr jeweiliges Thema selbst wählen. Insofern braucht es auch nicht zu verwundern, wenn der Neuigkeitswert des vorliegenden Tagungsbands sich in Grenzen hält und sich vielmehr durch eine thematische Zufälligkeit, respektive Beliebigkeit, auszeichnet.

Gegenüber einigen eher allgemein gehaltenen Analysen heben sich die Beiträge von Manfred Durzak, der etwa Friedrich Spielhagens Roman "Zum Zeitvertreib" mit einem Seitenblick auf Theodor Fontanes "Effi Briest" liest, und Manfred Misch, der sich den Subtexten der Lyrik Wilhelm Buschs - nämlich seinem Kampf gegen die Verbannung des Geschlechtlichen aus der Sphäre der Dichtung - widmet, sowie die Untersuchung der "Beziehung von Literatur und wissenschaftlichem Denken in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts" von Christine Maillard positiv ab. Letztere sieht etwa "wissenschaftliches Denken des Zeitraums 1850-1890 [...] als durch eine Vielzahl von koexistierenden Denkmustern vor dem Hintergrund der Ablösung idealistischer Schemata durch materialistische Paradigmen" gekennzeichnet. Quasi als 'Leitmythen' hätten vor allem Darwinismus und Vererbung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Eingang in die Literatur gefunden.

Manfred Durzaks Beitrag hebt sich auch deshalb von den anderen ab, weil er sich im Vergleich zu den übrigen Beiträgern eingehender mit Schlaffers Thesen auseinandersetzt und sie mit Blick auf die Erkenntnisse der Hirnforschungen Gerhard Roths hinterfragt: "Auf das System der über Jahrhunderte gewachsenen kulturellen Gedächtnis-Kompetenz der Literatur übertragen, schlägt Schlaffer gleichsam vor, durch selbstverursachte Amnesien wesentliche Teile dieses Gedächtnisses lahmzulegen und nur das deklarative Gedächtnis der Literatur bestehen zu lassen, d. h. den schmalen Korpus jener Texte, die nach wie vor lebendig geblieben seien im Tagesbewusstsein des Lesers. Es ist - ein bisschen pathetisch formuliert - der Aufruf zu einem Akt der Selbstverstümmelung, der zugleich den Anschein zu erwecken versucht, es sei die Befreiung des kulturellen Gedächtnisses vor bloßem Erinnerungsschutt. Die Begründung wird auf dem Wege des Zirkelschlusses vollzogen: Was nicht lebendig im deklarativen Gedächtnis der Leser geblieben sei, müsse man als überflüssigen Ballast abwerfen, als wenn das deklarative Gedächtnis eine absolute Geltung beanspruchende katalytische Instanz wäre und nicht vielmehr eine sich historisch wandelnde Gedächtnisgröße, die je nach Pendelausschlag der Entwicklung in den Hintergrund gedrängte Sachverhalte wieder aufgreift und aktiviert und in das deklarative Gedächtnis zurückholt."

Vor diesem Hintergrund würdigt Durzak Friedrich Spielhagens "Zum Zeitvertreib" als ein "fulminantes Buch, in dem das preußische Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts stärker pulsiert und präsenter ist als in manchen Berlin-Romanen Fontanes." Spielhagens Erzähltext sei "ein straff durchorganisiertes Erzählgefüge, das mit der Dramaturgie seiner Handlungssteuerung die Aufmerksamkeit des Lesers fesselt, mit seiner biegsamen Sprache nirgendwo künstliche Hürden schafft und das bei aller intendierten Objektivität der Darstellung die kritische Beurteilungsperspektive des Autors dennoch nicht diffus werden lässt." Fontane'scher Darstellung unterlegen sei Spielhagens Text jedoch, indem er den Bereich dessen ausspare, was Fontane "als Schreiben mit dem Psychographen charakterisiert hat." Gleichwohl bleibe Spielhagens "erzählerische Bravour" auch "aus heutiger Sicht immer noch erkennbar".

Titelbild

Hans-Jörg Knobloch / Helmut Koopmann (Hg.): Das verschlafene 19. Jahrhundert? Zur deutschen Literatur zwischen Klassik und Moderne.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2005.
205 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-10: 382602897X

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