Erzählen von Differenzen

Nach 25 Jahren Auseinandersetzung mit Uwe Johnsons Werk veröffentlicht Norbert Mecklenburg seinen zweiten Sammelband, "Nachbarschaften mit Unterschieden"

Von Céline LetaweRSS-Newsfeed neuer Artikel von Céline Letawe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In das Jahr 2004 fielen zwei Gedenktage für den deutschen Schriftsteller Uwe Johnson - sowohl sein 20. Todestag als auch sein 70. Geburtstag. Zu diesem besonderen Anlass wurde das Buch "Nachbarschaften mit Unterschieden. Studien zu Uwe Johnson" veröffentlicht. Der Autor, Norbert Mecklenburg, ist in der Johnson-Forschung schon lange als Spezialist anerkannt: Er befasst sich seit nunmehr 25 Jahren kontinuierlich mit Johnsons Werk, insbesondere mit dem vierbändigen, fast 2.000-seitigen Roman "Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl". Seitdem sein erster Sammelband, "Die Erzählkunst Uwe Johnsons", im Jahr 1997 erschienen ist, gilt Mecklenburg sogar als der bedeutendste Johnson-Kenner. Dem neuen Sammelband "Nachbarschaften mit Unterschieden" dagegen ist bis jetzt erstaunlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Der Grund dafür liegt sicherlich darin, dass nur ein Viertel des Bands aus unveröffentlichten Beiträgen besteht. Mecklenburgs Texte, ob neu oder nicht, erfüllen aber einmal mehr die Erwartungen, die man in sie setzen kann.

Die zwei Beiträge, die in diesem Buch zum ersten Mal veröffentlicht werden, seien hier besonders hervorgehoben. Der erste ist eine Inhaltsübersicht zu "Jahrestage", die ein von Uwe Johnson selbst erstelltes Kapitelverzeichnis integriert. Dieses Dokument macht den vierbändigen Roman zum ersten Mal "überschaubar" und stellt somit eine wichtige "Hilfe und Anregung für Leser" dar. Der zweite neue Beitrag ist der Aufsatz "Nachbarschaften mit Unterschieden", der dem Band seinen Titel gegeben hat. Darin wird das Werk Uwe Johnsons als ein "Erzählen von Differenzen" bezeichnet, wobei sich das Spektrum von "Ingrid Babendererde" bis "Jahrestage" allmählich erweitert habe. Mecklenburg konzentriert sich wie so oft auf die "Jahrestage", den Roman mit den meisten Differenzen. Er zeigt, dass sich diese Differenzen nicht auf kulturelle Aspekte reduzieren lassen und übt dabei scharfe Kritik an dem heutzutage zur Mode verkommenen Kulturalismus. Entscheidend in "Jahrestage" seien neben den kulturellen, politischen, historischen und regionalen vor allem die sozialen Differenzen. Die These, nach der "Kultur und Kulturdifferenzen in den Jahrestagen eine geringe Rolle spielen", erläutert Mecklenburg, indem er bestimmte Themenkomplexe untersucht, welche die in "Jahrestage" zentrale Dialektik von Nachbarschaft und Fremde veranschaulichen. Besonders anregend ist die Analyse der Passagen über "Multikultur und Slums", in denen ein sehr skeptisches Bild New Yorker Multikulturalität gezeichnet wird. Hervorgehoben werden dabei die sozialen Aspekte - Diskriminierung, soziales Elend und Ausbeutung. Mecklenburg fasst dies prägnant zusammen: "Hinter den Rassenkonflikten stehen Klassenkonflikte". Er zeigt, dass Johnson gegen rassistische Verallgemeinerungen ein soziales Erklärungsmodell stellt. Seine These erläutert Mecklenburg auch am Beispiel der beiden zentralen jüdischen Figuren des Romans, Mrs. Ferwalter und Dr. Arthur Semig. In dem Verhältnis zwischen Gesine Cresspahl und ihrer jüdischen Nachbarin Mrs. Ferwalter unterscheidet Mecklenburg verschiedene Momente der Fremdheit: Während Gesine die Grenze "Überlebende der Shoah/Deutsche" zieht, sieht Mrs. Ferwalter die Grenze eher zwischen Gläubigen und Nicht-Gläubigen. Mecklenburg zeigt, dass die Fremdheit hier keine Kulturfremdheit ist: Befremdet sei Gesine allein deshalb, weil Mrs. Ferwalters Grenzziehung zu ihrer eigenen querläuft - "Die Differenzdefinitionen differieren". Dr. Arthur Semig, der Nachbar Heinrich Cresspahls auf der Vergangenheitsebene, ist ein Tierarzt jüdischer Abstammung, der durch Beruf, nationale Gesinnung und christliche Konfession eine "maximale Integration" erreicht hat. Trotzdem wird er vom NS-Antisemitismus zum Fremden gemacht. Interessanterweise wird er in dieselbe Gruppe wie der jüdische Kleiderhändler Tannenbaum gezwungen, obwohl sie zwei verschiedenen sozialen Schichten angehören. Laut Mecklenburg benutzt Johnson die Gegenüberstellung Semig/Tannenbaum, um einmal mehr die Differenzen zu differenzieren. In diesem Aufsatz wird ein Aspekt hervorgehoben, der für die Aktualität des Werkes von wesentlicher Bedeutung ist, bis jetzt aber kaum beachtet wurde.

Die restlichen drei Viertel des Bands enthalten, wie gesagt, zuvor bereits veröffentlichte Beiträge. Einige sind von besonderem Interesse - was eine erneute Veröffentlichung auch rechtfertigen kann. So zum Beispiel der Aufsatz "Jahrestage als Biblia Pauperum" über die Verfilmung von Johnsons Meisterwerk durch Margarethe von Trotta im Jahre 2000. Dort unterscheidet Mecklenburg drei Ebenen, auf denen Literaturverfilmungen bewertet werden sollen: "nach den Genreregeln des Fernsehfilms, als filmkünstlerisches Werk, aus dem intermedialen Bezug zur literarischen Vorlage". Dies ermöglicht ihm eine differenzierte Beurteilung von der Verfilmung des Romans "Jahrestage": Während sie als Fernsehfilm im Ganzen "sehenswert" bleibe, enthalte sie unter filmkünstlerischem Gesichtspunkt "wenig Aufregendes" und sei schließlich keine gelungene Übertragung von Johnsons Roman. Hier ist von Reduktionismus die Rede, insbesondere auf der politisch-sozialgeschichtlichen Ebene (Mecklenburg wirft dem Film mit Recht eine "Entpolitisierung" des Romans vor). Ein besonders einleuchtendes Beispiel dafür ist das Bild der evangelischen Kirche im "Dritten Reich": Während im Roman von 1931 bis 1951 drei exemplarische Pfarrer in Jerichow aufeinander folgen - der typisch deutschnationale Methling, der "Nazi-Pastor" Wallschläger und der eher untypische Brüshaver, der 1938 ins KZ kommt - und dadurch dem Leser ein differenziertes Bild vermitteln, kommt im Film nur ein Pfarrer vor: Brüshaver. So werde "ungewollt das Bild der Kirche im Dritten Reich arg schöngefärbt". Von Reduktionismus kann auch die Rede sein, wenn zentrale Themen wie Zeitunglesen und Erinnerungsarbeit im Film vollkommen vernachlässigt werden, oder wenn Trottas Gesine im Unterschied zu der komplizierten Erzählsituation des Romans "allwissend im Voice over" erzählt, was sie gar nicht wissen kann. Mecklenburgs Urteil ist klar: "Im Mittelalter, als die Heilige Schrift nur den Eingeweihten zugänglich war, gab es für die Masse der Analphabeten die Biblia pauperum, die Bilderbibel. Auf sie hat sich Margarethe von Trotta ausdrücklich berufen. Sollten wir uns heute im Medienmittelalter befinden, so wären ihre 'Jahrestage' als Literaturverfilmung gerechtfertigt". In diesem Aufsatz widerlegt Mecklenburg interessanterweise auch die weit verbreitete These, nach der Johnsons Romane mit ihren vielen Schnitten eine bestimmte Affinität zur Filmästhetik hätten: Er betont nämlich den Unterschied zwischen den Textschnitten in Johnsons Romanen, die das konventionelle Erzählen verfremden, und den Filmschnitten, die eigentlich äußerst konventionell sind.

In seinen Beiträgen befasst sich Mecklenburg auch mit dem unvollendeten Nachlasstext "Heute Neunzig Jahr", den er selber im Jahre 1996 herausgegeben hat. Zum einen zeigt er mit philologischen Argumenten, dass dieser Text, dem sich Johnson nach Abschluss von "Jahrestage" zugewandt hat, in seinem Kernbestand nicht als Fortschreibung, sondern vielmehr als "Vorstufe" des Romans anzusehen ist. Zum anderen untersucht er am Beispiel bestimmter Passagen aus dem Nachlasstext zwei Aspekte von Johnsons Werk, die zwar gegensätzlich zu sein scheinen, eigentlich aber komplementär sind: das Poetische und das Dokumentarische. Mecklenburg untersucht auch die Verbindung zwischen Johnson und der DDR, "dem Land seiner Herkunft und seiner ersten schriftstellerischen Versuche": In einem Aufsatz, der ursprünglich in der Zeitschrift "Deutschunterricht" veröffentlicht wurde, bespricht er die DDR-Aspekte in Johnsons Werk, bevor er sich mit einer fünf Seiten langen Erzählung aus "Eine Reise wegwohin" befasst, die seiner Meinung nach für die Schullektüre gut geeignet ist. Somit gelingt es ihm, den als schwierig geltenden Autor für einen Literaturunterricht zu rehabilitieren, in dem das Thema DDR behandelt werden soll.

Mecklenburgs Buch über Uwe Johnson richtet sich nicht nur wie so oft an Germanisten und Forscher, sondern auch an Leser, die sich unter anderem für Interkulturalität, Soziologie und Geschichte interessieren. Mecklenburg betont explizit und implizit die Bedeutung des Differenzierens, in dem zentralen Aufsatz kämpft er sogar zusammen mit Johnson gegen Klischees und Verallgemeinerungen. Damit zeigt er, dass Johnsons Werk, obwohl es mit der Zeit der deutschen Teilung verbunden bleibt, in der es verfasst wurde, immer noch aktuell ist.

Dass nur ein Viertel des Bandes aus neuen Beiträgen besteht, ist natürlich nicht unproblematisch - auch wenn dieses Viertel besonders anregend ist. Es könnte nämlich nach Verwertung aussehen, ein Vorwurf, den einige mit Recht erheben werden. (Zumal es sich bei den schon veröffentlichten Beiträgen nicht einmal um besonders schwer zugängliche Arbeiten handelt.) Dem hält Mecklenburg in seinem Vorwort entgegen, dass alle Studien "gegenüber ihren Fassungen in der Erstpublikation durchgesehen, verbessert und, wo das nahelag, verändert und ergänzt worden" seien. Mit der Veröffentlichung dieses Bands wird aber ein bestimmtes Ziel verfolgt, das nicht aus den Augen verloren werden darf. Dass die Beiträge aus den Jahren 1980 bis 2004 stammen, ist nämlich kein Zufall: Das neue Buch soll einen Blick auf Mecklenburgs 25-jährige Auseinandersetzung mit Johnsons Werk ermöglichen.


Titelbild

Norbert Mecklenburg: Nachbarschaften mit Unterschieden. Studien zu Uwe Johnson.
Iudicium Verlag, München 2004.
245 Seiten, 23,80 EUR.
ISBN-10: 3891297734

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