Osterweiterung - Westverlängerung

In einer bunten Sammlung von Texten und Statements wird Jirí Gruša als überzeugter Mitteleuropäer präsentiert - und der Leser landet fast immer wieder in Prag

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Handbuch des Dissens und des Präsens" lautet der Untertitel dieser Sammlung von Essays, Stellungnahmen und Wortmeldungen aus den Jahren 1964-2004, die Grušas Vertrauter und Sekretär Michael Stavaric zusammengestellt hat. Neben einigen verstreut publizierten und bereits veröffentlichten Beiträgen aus längst vergriffenen Büchern und Zeitschriften werden die meisten Texte hier erstmals in deutscher Sprache vorgelegt. Auch wenn die schludrige Textkorrektur verärgert - glücklicherweise ermöglicht es nicht einmal die sogenannte Rechtschreibreform, dass aus "dass" ein "das" wird - es liegt in dieser Sammlung eine ausführliche Unterweisung in mitteleuropäische Befindlichkeiten vor. Und die Feststellung ist sicher richtig, dass Prag letztlich den Dreh- und Angelpunkt kultureller wie geschichtlicher Orientierung bei Jirí Gruša einnimmt, auch wenn er am 10. November 1938 in Pardubice geboren wurde. Zugleich bildet die deutsche Nachbarschaft eine zeitlos aktuelle wie auch intellektuelle Herausforderung für Jirí Gruša, und dies nicht nur deshalb, weil er nach seiner Ausbürgerung seit 1981 in Bonn als freier Schriftsteller gelebt hat. In der Bundesrepublik waren auch Grušas Romane erschienen und später, in den 90er Jahren, Gedichtbände, die er in deutscher Sprache geschrieben hat.

Nach seinem Studium der Philosophie und Geschichte an der Prager Karls-Universität war Gruša maßgeblich an der Gründung der ersten nicht-kommunistischen Zeitung in der sozialistischen Tschechoslowakei beteiligt. Im Januar 1964 erschien erstmals "Tvár" (= das Gesicht) und hatte nicht nur in den Reihen der linientreuen Funktionäre gewaltige Reaktionen ausgelöst. In den im vorliegenden Band abgedruckten "Tagebuchskizzen 1956-1969" finden sich lebhafte Beschreibungen dieser ideologischen Grabenkämpfe, und viele Schriftstellerfreunde wie Jan Lopatka, Milan Uhde oder Petr Kabeš fanden sich allesamt wie Gruša selbst nach dem niedergewalzten "Prager Frühling" des Jahres 1968 und vor allem in der Zeit der "Normalisierung" in den 70er und 80er Jahren im politischen und kulturellen Abseits wieder.

Gruša war, wie etwa auch Václav Havel, nie Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen - auch wenn dies grob fälschlicherweise in der Havel-Biografie des britischen Professors John Keane behauptet wird. Seinem wiederholt vorgetragenem Motto entsprechend, dass "die Zähmung der heimlichen Kannibalen mit der Veröffentlichung deren Speisekarte beginnt", publizierte Gruša, nachdem spätestens nach seiner Unterzeichnung der Bürgerrechtsmanifestation Charta 77 an offizielle Veröffentlichungen nicht mehr zu denken war, im heimischen Samizdat und auch im Ausland, was in der CSSR schließlich zu seiner Verhaftung führte.

Themen und existenzielle Problemstellungen wie der "Macht", der "Sittlichkeit" oder dem Verhältnis zwischen dem "Einzelnen" und der "Allgemeinheit" kennzeichnen die Überlegungen Grušas ebenso wie Überlegungen zum europäischen Zusammenleben. Ausgehend von einem nüchternen Realismus lehnt Gruša alle nationalistischen, rassistischen oder auch kommunistischen Versuche ab, die den Menschen "stillschweigend in das Material für ein Experiment verwandelt". Ob die nationale Rasse oder die sozialistische Klasse propagiert wird oder auch ethnische Identitäten - Gruša fällt das aktuelle Bild der "Karadžice mit ihrem Leierzupfen vor dem Tor neu angelegter nationaler Friedhöfe" ein. In seinem Beitrag "Risikoreiches Mensch-Sein" plädiert Gruša dafür, Verantwortung zu übernehmen: "Wo wir also wählen und zurückweisen und dann wieder wählen und wieder zurückweisen können - wie wir das ja schon Jahrhunderte lang getan haben (und woraus wir aller zeitbedingter Ernüchterung zum Trotz einen schwachen Trost ziehen können). Wo wir also wieder von der verbotenen Frucht essen - um 'zu wissen, was Gut ist und was Böse'. Um wieder unterscheiden zu lernen". Im unmittelbaren Aufgreifen bewusst vorgenommener Auswahl sieht Gruša eine Möglichkeit, subjektive Authentizität zu leben. In seinem Vortrag "Bildung als Brücke zwischen den Kulturen" bündelt Gruša seine "vier Antithesen gegen die Osamas": "1. Empathie, 2. Ironie, 3. Respekt vor der Differenz, 4. kommunikative Kompetenz".

In der Tat lässt sich Grušas eigenes literarisches und publizistisches Wirken über die Jahrzehnte hinweg an diesen von ihm aufgerichtetet Orientierungsmarken messen. Nicht zuletzt deswegen ist Jirí Gruša zu einem erfolgreichen Mittler über die Grenzen hinweg geworden. Als Schriftsteller, tschechischer Botschafter und seit 2003 als Präsident des Internationalen P.E.N.-Clubs.


Titelbild

Jirí Gruša: Als ich ein Feuilleton versprach. Handbuch des Dissens und des Präsens. Essays, Gedanken und Interviews aus den Jahren 1964 bis 2004.
Herausgegeben und aus dem Tschechischen übersetzt von Michael Stavaric.
Czernin Verlag, Wien 2004.
264 Seiten, 21,40 EUR.
ISBN-10: 3707601951

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