Les escaliers de la Butte

Undine Gruenters "Pariser Libertinagen": Ein Fest fürs Lesen?

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"A vendre des Corps, les voix, l´immense opulence inquestionable, ce qu´on ne vendra jamais." Mit diesem Zitat von Rimbaud beginnt das "Passagenwerk", Walter Benjamins monumentale Liebeserklärung an Paris, "die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts". Wer schon hier beim Übersetzen stolpert, sollte Benjamins überbordendes, fragmentarisches Paris-Denkmal meiden, parce que... ähm... il varieé les langues tres fort et sans une... hmm... avertissement (?). Quel`qun qui n`est pas possible du parle le Français tres bien, le livre n`ai etait pas faire les amusements profundees, c`est sure.

Kulturkritiker Benjamin stürzte sich in einen urbanen Mikrokosmos, pingpongte zwischen kulturellen Artefakten und historischen Bezügen hin und her und entwarf ein Panorama der modernen Konsumgesellschaft - und seinem vormodernen Widerpart, dem sterbenden "alten" Paris. Verwegene Assoziationsketten und kulturanthropologische Kamikazeflüge, Rätselbilder und Zitate, die sich nur durch andere Rätselbilder und Zitate kontextualisieren, aber nie, nie, nie wirklich begreifen lassen. Oder, kürzer: schwere Kost.

Undine Gruenters Textsammlung "Pariser Libertinagen" ist nur ein Zehntel so umfangreich wie der Benjamin`sche Einbrecherüberwältigungsklumpen, aber genauso fordernd. In 25 kurzen Texten streift sie durch "ihr" Paris: Manchmal spielt sie kleine Szenen aus ihrer Vergangenheit aus oder entwirft augenzwinkernde Fantasien. Mal gehen ihr die Satzzeichen verloren, und Plätze oder Kanäle werden zum Ausgangspunkt wilder Stream-of-Conciousness-Kaskaden. Dann wieder plaudert sie über Freunde, Begegnungen, Lokalitäten. Alle Texte sind verknappt, angenehm ökonomisch, auch wenn sie bei A beginnen, und meist ganz woanders aufhören. Persönliche Spaziergänge durch die Metropole, die stets neue unerwartete Schlenker machen, mit stilistischen Finessen aufwarten und vor allem: mit Querverweisen.

Hemingways "Paris - ein Fest fürs Leben", das Cafe des Flore und die Existenzialisten, Apollinaire, die Closerie des Lilas, Jeanne Moreau, Breton, Gide, Aragon, der Père Lachaise, Gertrude Stein, Haussmann... und das ist nur die Spitze des Eisbergs, jene Namen, mit denen auch wenig frankophile Leser etwas assoziieren können. Dieser kulturelle Overkill ist jedoch niemals bloßer Selbstzweck. Denn Gruenter schneidet Szenen dagegen, die nicht auf Postkarten abgebildet werden, sie redet über miserable Sanitäranlagen, verschmodderte Kelleretablissements, heimwehkranke Straßenkehrer, Bausünden und Elend in den Banlieus, Touristenschwemme und Burger Kings am Montmartre. Die Grenzen zum Sozialkitsch oder zur intellektuellen Nabelschau überschreitet sie nur selten. Denn ihre Sprache ist durchzogen von einer feinen Ironie, und ihre Beobachtungen so präzise und überraschend, wie man es aus Gruenters Kurzgeschichten gewohnt ist.

Deren Qualität erreicht "Pariser Libertinagen" jedoch kaum. Das Buch wirkt unfertig, wird nur durch die leidenschaftliche Faszination der Autorin für ihre Wahlheimat zusammengehalten. Auch das vorangestellte Louis Aragon-Zitat schafft keinen thematischen Überbau: "Das Geschmacklose, das ist das burleske Unerwartete, das ist der echte moderne Lyrismus. Wollen wir wirklich lyrisch sein, müssen wir gerade die Dinge exaltieren, die die Menschen verachten, jene Dinge, über die sie lachen, ohne dass wir sie dabei aber deformieren; wir müssen von dem Lachen ausgehen, das verhöhnt, um auch ihm ein Lachen zu machen, das verherrlicht."

Hier wird ein Versprechen gemacht, dass das Buch nicht einlöst. Sicher, es kokettiert - auch in seiner kitschigen Aufmachung, die wohl primär ältere Frauen ansprechen soll - Satz für Satz mit dem Banalen, der plumpen Frankreich-Verherrlichung, dem Schmunzeltonfall der Lifestyle-Kolumne. Doch Gruenters Textsammlung ist durch und durch das Werk einer Intellektuellen: auch die schönsten, emotionalsten, einfachsten Passagen sind in erster Linie klug. Und einige Passagen sind es voll und ganz. Und nichts weiter. Und das ist schade.

Undine Gruenter, Ehefrau des Essayisten Karl-Heinz Bohrer, starb 2002 in Paris. Sie hat wesentlich bemerkenswertere Werke zurückgelassen, intelligente Kurzgeschichten, eine Handvoll Romane. Doch so persönlich und verspielt konnte man sie bislang kaum erleben. Vor allem der Abschlusstext, in dem eine Frau die Metrofahrt ihres Geliebten im Morgengrauen mental mitverfolgt, ist zum Heulen schön.

Keine Frage: die großen Gedankengebäude der Kulturkritik, die mehrspurigen Boulevards, auf denen man ungebremst dem Zeitgeist entgegenbrausen kann, und die prunkvollen Archive, in denen alle wichtigen Gedanken sorgfältig archiviert sind, die haben andere gebaut, Zeigefingerheber wie Benjamin. Gruenter hielt sich an die Gassen, die Seitenstraßen, suchte das Große im Kleinen, das Besondere im Ephemeren. "Pariser Libertinagen" ist kein großes Buch. Aber ein bemerkenswertes. Und wer sich vom Französisch abschrecken lässt, dem seien automatische Übersetzungsprogramme ans Herz gelegt. Die werden auch mit Rimbaud prima fertig: "Die Körper zu verkaufen die Stimmen, der unermeßliche inquestionable Überfluß, das, was man nie verkaufen wird." Ein solches Rätselbild hätte sicher beiden, Gruenter und Benjamin, gefallen.


Titelbild

Undine Gruenter: Pariser Libertinagen.
Mit einem Nachwort von Katrin Hillgruber.
Carl Hanser Verlag, München 2005.
190 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3446206574

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