Ecce Filia
Cornelia Pechota Vuilleumier über weibliche Emanzipationsbestrebungen und Juden in der Literatur um 1900
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNietzsches Spätwerk ist für die megalomanen Fantastereien seines Autors ebenso bekannt wie berüchtigt. Dies gilt namentlich für die um den Jahreswechsel 1888/1889 verfasste Nachlassschrift "Ecce Homo", deren Kapitel so vielsagende Überschriften tragen wie etwa "Warum ich so weise bin" oder - in leichter Variation - "Warum ich so klug bin". Dass der Autor in dem Kapitel "Warum ich so gute Bücher schreibe" von den Angehörigen des weiblichen Geschlechtes behauptet: "Sie lieben mich Alle", ist da fast schon eine Quisquilie. Wie so manche seiner bramarbasierenden Selbststilisierungen scheint auch diese - mit einem Blick auf Nietzsches Biografie - reichlich zweifelhaft. Er selbst konnte sein Wort allerdings aus anderen Gründen nicht ohne einen seiner typischen misogynen Ausfälle stehen lassen und rechnete die "verunglückten Weiblein" sogleich von der ihn liebenden Menge der Frauen ab. Verunglückt, das sind ihm "die 'Emancipierten', denen das Zeug zum Kind abgeht". Ein Verdikt, an das sich eine wahre Suada gegen das "missrathene, dass heisst gebäruntüchtige Weib" mit seinen Forderungen nach "Gymnasial-Bildung, Hosen und politische[n] Stimmvieh-Rechte[n]" anschließt. Natürlich enthält der hämmernde Philosoph der männlichen Leserschaft, an die das Werk ganz offensichtlich ausschließlich gerichtet ist, nicht vor, "wie man ein Weib kuriert - 'erlöst'". Ganz einfach: "Man macht ihm ein Kind."
Nicht von der angeblichen Liebe der Frauen zu Nietzsche, aber doch davon, dass er um 1900 bei ihnen beliebt gewesen sei, weiß Cornelia Pechota Vuilleumier zu berichten, und dies nicht ganz zu Unrecht. So war die Bewunderung für Nietzsche als Schriftsteller bei Autorinnen - zumal bei Feministinnen - tatsächlich recht verbreitet. Auch Gabriele Reuter und Hedwig Dohm schätzten ihn als solchen. Lou Andreas-Salomé - von Dohm allerdings mit guten Argumenten zu den "Antifeministen" gerechnet - hatte ihn in jungen Jahren gar kennen gelernt. Doch erwies sie sich als zu freier Geist, um länger an seiner Seite ausharren zu können.
Reuter, Dohm und Salomé - diesen literarischen Vater-Töchtern gilt Vuilleumiers unter dem Goethe zitierenden Titel "O Vater, lass uns ziehn!" veröffentlichte Dissertation. Entsprechend gewichtig ist denn auch die Rolle, die Nietzsche in ihrer Arbeit spielt, der von den drei Autorinnen trotz "seiner oft verächtlichen Rede über 'das Weib'" als "guter Vater" wahrgenommen worden sei und ihnen so geholfen habe, "falsche Väter zu entlarven". Zwar sieht Vuilleumier Nietzsches Frauenfeindlichkeit durchaus. Allerdings neigt sie dazu, diese zu relativeren. Sie spricht sogar davon, dass er den Frauen "in diametraler Umkehrung" seiner misogynen Verbalinjurien "auf rhetorischer Ebene [...] den Weg zur Befreiung gewiesen" habe. Alyth F. Grant, die von Vuilleumier mit den Worten zitiert wird, Autorinnen und Frauenrechtlerinnen wie Helene Böhlau hätten sich Nietzsches Sprache und Bilder "in an iconoclastic reversal of their original intents" für ihre Ziele zu Nutze gemacht, trifft die Sache wohl besser.
Das Einheit stiftende Moment der drei ausgewählten Untersuchungstexte - Vuilleumier konzentriert sich auf Reuters "Gunhild Kersten" (1894), Dohms "Christa Ruhland" und Salomés "Ruth" (1895) - bildet allerdings nicht so sehr der Einfluss Nietzsches auf die Autorinnen, sondern ein den Beziehungen der Titelfiguren zu ihren jeweiligen Vätern eingeschriebenes Spannungsfeld. Im Falle Ruths nimmt allerdings ein Geistlicher die Vaterposition ein. Dieses Spannungsfeld gründet der Autorin zufolge in einem Autonomiebestreben der Töchter, das von den Vätern zugleich gefördert wie auch behindert wird. Eine "ambivalente Dynamik", die alle drei Protagonistinnen schließlich zur "Scheidung vom Vater" führe.
Die sie von den Vätern scheidenden Emanzipationsbestrebungen der drei Protagonistinnen führt die Autorin mit dem zweiten zentralen Thema ihrer Arbeit zusammen: der "Kompromiss-Lösung jüdischer Akkulturation" in den untersuchten Texten. Zwischen beiden besteht Vuilleumier zufolge ein von der Forschung bislang unbeachteter "innerer Zusammenhang": Die Titelfiguren der untersuchten Werke spiegeln sich in den jüdischen Figuren der Romane. Zudem will die Autorin über die bekannten diskursiven Analogien der Konstruktionen von Frauen und Juden als den 'Anderen' hinaus "reale Affinitäten und Solidaritäten zwischen beiden Gruppen" herausarbeiten.
Führt Vuilleumier hiermit zwei Themenkreise eng, so behandelt sie ihre drei zentralen Primärtexte weitgehend getrennt voneinander. In Reuters "Gunhild Kersten", einem "hybride[n] Produkt zwischen Autobiographie, Religionskritik, Künstlerinnen-Utopie und egalitärer Geschlechter-Fantasie" wird ein "jüdische[r] 'Enthusiast' [...] gerade wegen seiner geglückten Assimilierung zum 'Anderen'" - und er wird von der Romanautorin "zum idealen Ziehvater umfunktioniert". In Dohms "Christa Ruhland" sieht die Autorin die "Frauen-Frage" durch den jüdischen Diskurs "überlagert". Dohm ordne die weibliche Bildung einer "persönlichen 'Zukunftsreligion'" unter und verwebe die "von jüdischen Vätern ererbte Idee der 'Sendung'" mit ihren feministischen Zielen. So werde eine assimilierte jüdische Figur zum alter ego der Titelheldin. Als weniger ergiebig für Vuilleumiers These von der Verwobenheit der beiden Themen erweist sich Salomés Werk, sodass die Autorin hier verstärkt auf das Goethe`sche Mignon-Motiv abhebt und der "'Imitation' des Meister-Mignon-Plots" in Salomés Roman breiten Raum einräumt.
Man wird nicht mit allen Ausführungen Vuilleumiers einverstanden sein. Die Vorstellung Salomés als "legendäre[r] Freundin berühmter Männer" wird dieser originellen und den 'berühmten Männern' kongeniale, wenn nicht überlegene Denkerin sicherlich ebenso wenig gerecht wie ihre Apostrophierung als Nietzsches "Schülerin Lou", wobei das von Vuilleumier insinuierte Lehrer/Schüler-Verhältnis noch dadurch unterstrichen wird, dass sie Nietzsche stets mit dessen Nachnamen, die ebenfalls erwachsene Salomé hingegen wie ein kleines, kaum ernst zu nehmendes Mädchen mit ihrem Vornamen nennt. Auch wird die Onomastik, die ein besonderes Steckenpferd der Autorin zu sein scheint, zwar gründlich und meist plausibel angewandt, gelegentlich aber doch etwas überstrapaziert. Diese kritischen Einwände sollen und können den Erkenntnisgewinn, den die Zusammenführung ihrer beiden zentralen Themen bietet - der Vater/Töchter-Problematik und der jüdischen Akkulturation in den untersuchten Texten -, allerdings ebenso wenig relativieren wie ihr eher unkritisches Verhältnis zu Nietzsches Frauenfeindlichkeit.
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