Die Emanzipation der Dissonanz

Ulrike Draesners aktueller Gedichtband "Kugelblitz"

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt kaum eine atmosphärische Erscheinung, um die sich so viele Legenden ranken wie über die des Kugelblitzes. Als Leuchtkugeln sollen sie angeblich einige Sekunden aufflammen und wieder verschwinden. Der neueste Gedichtband von Ulrike Draesner trägt den Titel "Kugelblitz". Sehr passend, denn Draesners Gedichte wirken wie Momente, in denen Funken zusammenschießen, aufleuchten und wieder verschwinden - Kugelblitze eben. Ohne Interpunktion und Reim fliegen Eindrücke auf den Leser zu, meist kleingeschrieben und scheinbar willkürlich mit untergemischten englischen Wörtern und Zusätzen in Klammern versehen. Die prasselnde Flut der Eindrücke soll offenbar reichen, um die Fantasie des Lesers zu reizen. Ulrike Draesner versucht mit allen Mitteln, modern zu sein und schreckt daher vor zu viel Schliff zurück - für sie ist das scheinbar logisch und wichtig, obwohl die Idee verwundert.

Was bleibt, sind Fragmente. Bloß keine vollständigen Sätze schreiben, bloß nicht zu viel verraten, bloß nicht konservativ sein. Mächtig und reichhaltig scheint der Stoff, er lädt zum Herumdeuteln an Einzelstellen und auf den ersten Blick zusammenhanglosen Passagen ein. Doch was bleibt ist die Emanzipation der Dissonanz, atonale Musik. Das Lesen der Gedichte quält. So kam auch Wulf Segebrecht in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" arg ins Grübeln und resümierte: "Vieldeutigkeit ist Trumpf in diesen Gedichten." Scheinbar erhaschte Erkenntnisse verpuffen schnell wieder - Kugelblitze im Hirn.

Ulrike Draesner ist freie Autorin und Übersetzerin, sie erhielt den Leonce-und-Lena-Preis und den Bayerischen Staatspreis für Literatur. Sie veröffentlichte unter anderem den Lyrikband "Gedächtnisschleifen" (1995) und den Roman "Lichtpause" (1998). Gleichzeitig gilt Draesners Liebe dem Motorsport, sie posierte mehrfach als Modell im Pirelli-Kalender. In ihrem 2005 erschienenen "Spiele"-Roman hatte sich Draesner viel vorgenommen, und vieles ist ihr dabei wieder nicht gelungen. Auch "Spiele" wirkt "übercodiert" und ermüdet mit zahllosen "Bedeutungsebenen", schrieb Maike Albath im November 2005 in der Neuen Zürcher Zeitung. Es ist erstaunlich, wie sich die Stimmen zu anderen Werken Draesners der Meinung des Rezensenten anschließen.

Und doch muss eine Faszination von der mehrfach ausgezeichneten Autorin ausgehen. Werner Köhne behauptet, nichts an den Gedichten von Ulrike Draesner sei redundant. Die Welt werde jung, zerfalle und setze sich in funkelnden Splittern wieder zusammen - wenn auch allzu maniriert tiefsinnig in der Anlage. Was soll das? Auch nach intensivem Schürfen ist keine Linie zu finden, es bleibt bei der willkürlichen Form - ohne Raffinesse! Wie schön ist es da doch, wenn man nach der "Kugelblitz"-Lektüre beispielsweise die formal strengen und gleichzeitig sprühenden Versen ihres fast gleichaltrigen Poetenkollegen Helmut Krausser in die Hand nehmen kann.


Titelbild

Ulrike Draesner: Kugelblitz. Gedichte.
Luchterhand Literaturverlag, München 2005.
87 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-10: 3630620841

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