Aber immer erinnern

Kevin Vennemann schreibt einen gegenwärtigen Roman über den Holocaust

Von Axel DunkerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Dunker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von einem Tag zum anderen ist alles vorüber. Gerade noch trinkt man die erste und einzige Sommerbowle des Jahres, da heißt es: Sie kommen. Sie, das sind die Nachbarn, polnische Bauern, ehemalige Partisanen und Freunde der - wie man bald erschließen kann - jüdischen Familie, die "nahe Jedenew" bisher ein friedliches Leben geführt hatte. Jetzt kommen die Deutschen, und die Bauern paktieren mit ihnen, spielen Klarinette und Akkordeon, grölen, "auf wundersame Weise melodiös", ihre alten Partisanenlieder und dazu spielen sie ein wenig Pogrom. Ein Säugling wird den Armen der Mutter entrissen und treibt wenig später mit dem Gesicht nach unten im Teich.

Vorüber ist von einem Augenblick zum andern auch die Kindheit. Das noch nicht fertig gebaute Baumhaus wird zum Versteck, von dem aus man jede Nacht durch die Felder schleicht, um nach Nahrung zu suchen. Und doch ist die Kindheit noch da: das Baumhaus ist auch ein Ort des herbeigesehnten Abenteuers, an dem es dann doch nicht viel Aufregenderes zu tun gibt als am Abend die Mückenstiche am Bein zu zählen. Das aber ist in diesem Buch das Gegenteil von harmlos - Kevin Vennemann erzählt in seinem zweiten Roman aus der Sicht von Kindern und Heranwachsenden, deren mythisches Weltbild und der Schrecken der Gegenwart sich ineinander schieben, bis alles schreckliche Gegenwart wird: der Bauer Krystowczyk, der sonst immer gekommen ist, um den Kindern etwas zu bringen oder ihnen beim Baumhausbau zu helfen, befiehlt jetzt auf deutsch den anderen Bauern, Feuer an einen der beiden Höfe zu legen, die den jüdischen Familien gehören; eine Hochzeit, die Sommernächte, an denen man wachend beieinander liegt, um sich die immer gleichen Geschichten zu erzählen, und die deutschen Soldaten, die - wie man vom Baumhaus aus beobachten kann - das andere Haus ausräumen.

Die Kinder erzählen alles im Präsens, auch Dinge, die ganz offenkundig in der Vergangenheit geschehen sind. Das erscheint zunächst künstlich, ja gekünstelt, doch es erweist sich immer mehr als das gestaltende Prinzip dieses erstaunlichen Buchs, in dem alles ineinander kreist, alles immer noch einmal erzählt wird. Im Zentrum steht der Bericht des Vaters über eine Schlittenfahrt während eines Schneesturms, bei dem jegliche Orientierung verloren ging und man nach Stunden immer wieder die eigene Spur kreuzte. Die Kinder (aber sind sie denn noch Kinder und haben nicht selber schon welche?) sind fasziniert von dieser Geschichte und wollen sie immer wieder hören, obwohl sie doch längst das Buch gefunden haben, in dem der Vater sie gelesen hat, um sie zu seiner eigenen zu machen - so wie der 1977 geborene Autor die Geschichte der jüdischen Familie irgendwo in der "südlitauischen Heide" zu einer eigenen gemacht und nun labyrinthisch und gleichsam ohne Ausweg, manchmal an den Peter Weiss des "Gesprächs der drei Gehenden" erinnernd, von ihr erzählt.

Jedes Jahr schneiden die Kinder eine Lichtung in ein Kornfeld, dessen Ähren so hoch sind, dass sie nicht darüber schauen können. Dort liegen sie tage- und nächtelang, geschützt vor dem, was draußen ist. Jetzt aber wird dieser geheime Ort zum Ort des Verrats an das Draußen, an dem sich die Bauern auf die Lauer legen, um von dort aus schließlich das Baumhaus zu finden. "Und nichts ist mehr wie zuvor" - dennoch taucht erst auf der vorletzten der 143 Seiten die erste Imperfekt-Form auf. Die Vergangenheit wird zur täuschenden Vorgeschichte der Gegenwart, was der Vater vorgelesen hat und was man gerade selber erlebt, geht ununterscheidbar ineinander über. Was aber ist mit der Zukunft? Es wird keine geben. "Ich atme nicht", heißt der letzte Satz des Romans.

Man erfährt in diesem Buch nichts darüber, wie es dazu kommen konnte, weshalb die polnischen Partisanenlieder jetzt zum Pogrom aufspielen. Vorherrschender Eindruck beim Lesen ist ein Anhalten der Zeit, der Moment vor dem Tod, der in diesem Buch nicht den Namen des 'Holocaust' bekommt. Es geht Vennemann nicht um eine Erklärung für den Sieg des Faschismus, aber doch auch nicht um eine Psychologie im Angesicht des Schreckens. Der Moment, der Augenblick der Gegenwart saugt die Zeit in sich auf und gibt sie nicht mehr frei. Es gibt keine Zeit danach. Wenn es dann heißt: "Aber immer erinnern und ein letztes Mal wieder erinnern müssen, wenn, wie wir beschließen, uns keine andere Wahl bleibt", so bedeutet das eine absolute Bindung der Zeit an den Moment des Umschlags, den Augenblick des "Sie kommen". Wenn es Überlebende geben sollte - was wir nicht erfahren - so wäre für sie weiterhin alles auf diesen Moment fixiert. Die Psychologie nennt das: Trauma. Durch eine suggestive Sprache, endlose, in sich selbst kreisende Sätze macht Vennemann deutlich, wie es dazu kommt.

Dieses Trauma aber ist nicht etwas Individuell-Psychologisches, sondern markiert ein historisches Datum in der Historie des 20. Jahrhunderts, die bis in unsere Gegenwart reicht. So erreicht sie auch einen Autor des Jahrgangs 1977. Dem Autor gelingt das Kunststück, ganz distanzlos und doch voller Distanz über den Holocaust zu schreiben. Er findet eine Sprache, die Sprache der Gegenwart, die den Leser ganz nah an das Geschehen heranführt und ihn doch ganz fremd und verstört davor stehen lässt.

Es ist noch nicht vorüber - Kevin Vennemanns "Nahe Jedenew" bringt das "Sie Kommen" in eine absolute Gegenwart, die auch die unsere ist.


Titelbild

Kevin Vennemann: Nahe Jedenew. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
143 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-10: 3518124501

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